Ob du betindert bist hab ich gefragt

Manchmal sehe ich ein schönes Gesicht in der Ubahn und denke: wahrscheinlich könnte ich Dich lieben.

Wenn das Gesicht über mehrere Stationen mitfährt, und das tut es ja doch meistens, weil wir schlussendlich ja alle dieselben Ziele haben, fängt mein Kopfkino an, im Mini-Klick-Fernseher-Modus Bilder auszuspucken.

Gesicht und ich mit Sonntagszeitung im Bett. Klick. Gesicht und ich bei der Pulitzerpreisverleihung (meine natürlich). Klick. Gesicht und ich beim Versöhnungssex auf dem Küchentisch, nachdem wir uns so richtig heiß gefetzt haben. Ach Gesicht, wie schön du doch bist, wenn du wütend bist! Klick. Gesicht und Minigesicht. Klick. Gesicht und ich im Demenzhospiz, wo wir uns Tag für Tag noch mal neu ineinander verlieben können. Klick.

 

w/ #ediesedgwick and #ginopiserchio in #beautyparttwo by #andywarhol.

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Da machen wir uns  doch mal kollektiv nichts vor, im Kern unterscheidet sich so ein Datingleben oft nicht so wahnsinnig grundlegend von diesen immer zu langen Ubahnfahrten. Draußen zu kalt, drinnen zu schwitzig, ständig dieselben News auf den Bildschirmen und dazu noch die ein oder andere Signalstörung.

Tindern heißt Schnupperpraktika in verlorenen Seelen. Mich rühren ihre minutiös zusammenkuratierten Körperteile und Statussymbole, ihre fragenden Selfies und die eigentümlichen, mitunter passiv-aggressiven Selbstbeschreibungen in denen sie 1 Abenteuer suchen, no ONS oder eben vielleicht doch, weil ganz ehrlich das wär ja spießig vorauszusagen was heut noch passiert, Hobbies: Fun. Bitte keine künstlichen Tussies und Machu Pichu Selfies! Intelligence is a must! Und weil es ja hier wichtig zu sein scheint: 1,83.

Pleased to meet you, I look forward to you ignoring me jk w/ #victorguerrier.

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Wir wischen so lange fremde Gesichter, bis uns eines von ihnen mal ein bisschen besser gefällt und tippen dann so lange darauf rum, bis es hoffentlich mal ein paar halbwegs amüsante Phrasen ausspuckt. Dann fassen wir das Gesicht irgendwann an, stecken vielleicht unsere Zunge oder andere Körperteile hinein und dann hat auch das Kopfkino schon wieder wunderbar Zeit, loszurattern. In wie vielen anderen Gesichtern dieses Gesicht wohl sonst noch herumwischt? Klick. Was hat das alles zu bedeuten? Klick. Will ich das überhaupt? Klick. Was macht man denn dann überhaupt mit so einem Partner, wie alt werden die so und was fressen die eigentlich? Klick.

Und ziemlich schnell entwickeln sich diese Gesichter zu einer zusehends anstrengenden Angelegenheit.

Wir entwickeln ein neues Vokabular für diese Zustände, die quasi keine mehr sind, um die Leere zu füllen die entsteht, wenn das grüne „schreibt…“ auf einmal ausbleibt. Ghosting. Benching. Rebound. Bootie Call. Klick, klick, klick, klick, klick, Repeat. Vokabular um etwas greifbar zu machen, das in Wirklichkeit genau einen betinderten Namen hat: Gnadenlose Unhöflichkeit.

 

Nenn es Berlinphänomen oder auch nicht, aber da wo ich herkomme, ist Mittwochs Markt und du hast dann besser mal deine Brille auf, um auch ja niemanden zu übersehen und vielleicht aus Versehen nicht zu grüßen. Schlechtes Benehmen funktioniert da einfach nicht. Das spricht sich viel zu schnell rum.

Und deswegen bin ich auch jedes Mal wieder kleinstädtisch erstaunt, wie mirnichtsdirnichts diese gute Kinderstube beim Dating mal eben flott über Bord geworfen wird.

Klar gehen Dinge und Menschen auch weg, wenn man sie lange genug ignoriert, aber wäre es insgesamt nicht wirklich nachhaltiger und effizienter, stattdessen einfach mal ehrlich zu sein? Was außer unserer eigenen Rückgratlosigkeit hält uns davon ab, einfach mal zu sagen: Hans-Peter, deine Gedankenskizzen zum Poststrukturalismus waren absolut umwerfend – dein Mundgeruch ist es leider auch.

Susanne, es war mir wirklich ein Vergnügen, deine diversen Schleimhäute aus der Nähe kennenzulernen, doch dein Gesicht beim Höhepunkt wird mich noch in mehrere Alpträume verfolgen. Nichts für ungut.

404 Peace of Mind Not Found w/ #MarilynMonroe.

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Logisch: niemand hört allzu gern seine Performance-Defizite, aber ist es nicht grundsätzlich schöner, zu wissen woran man ist, um daraufhin einfach entspannt und freundlich auseinandergehen zu können?
Wem wir mehr als eine Körperöffnung oder einen intimen Gedanken offenbart haben, sollten wir ein nicht-verletzendes Grundmaß an Ehrlichkeit zugestehen. Ein schlichtes „Nicht für mich. Aber für jemand anderes ganz bestimmt.“

„Manchmal wünsche ich mir wirklich die DDR zurück“ schüttelt AK den Kopf, als wir gemeinsam eine Message zu dechiffrieren versuchen, die wirklich niemand mit mehr als drei Mykrogramm Empathie im Hormonkreislauf auch nur ansatzweise ernst nehmen könnte. Diese Message hat genau zwei Botschaften: 1. Du bist mir eigentlich ziemlich egal und 2. Ich werde dich trotzdem bald wieder mal schwach von der Seite anhauen, wenn ich das nächste Mal nicht genau weiß, wohin gerade mit all dem Penis. Wait. For. It. Sie kommen alle wieder.

 

 

Denn wir sind alle nie wirklich weg – aber eben auch nie wirklich da. Das „hey und na, wie läuft´s bei dir so in letzter Zeit?“ ist eben immer nur drei hüpfende Pünktchen vom Anderen entfernt.

Ich ärgere mich dann manchmal etwas, dass ich für diesen ganzen lauwarmen Shizzle inzwischen zuviel Selbstachtung habe. Mein Intellekt die alte Axt schon so abgestumpft ist, dass er mehr hören muss als „na noch was vor heute?“ und ich mich so selbst um sehr viel hirnlosen schalen Penis – Spaß bringe.

Shut up and abyss me, w/ #Persona by #IngmarBergman.

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Denn eigentlich ist das Einzige, was einem dann noch bleibt, ein ausgereiftes Social Media Zeugenschutzprogramm. Bist du dir sicher, dass du Gesicht blockieren möchtest? Es tut uns leid, dass du diese Erfahrung machen musstest. Dankesehrlieb Mark Zuckerberg – wenigstens einer beweist hier Empathie.

Und die Plakatwand fragt spöttisch: Keine Lust mehr, jeden Tag was Neues klar zu machen?

Ich schüttle den Kopf und frage mich, warum ich überhaupt das Haus verlassen habe. Ab unter zehn Grad Außentemperatur sollte man prinzipiell gar nichts mehr tun, außer die eigenen Körperteile mit warmen anderen zu verknoten und dabei so wenig offene Fragen wie möglich zu haben.

My maudlin life w/ #BrigitteBardot in #LeMepris by #JeanLucGodard.

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Aber das hier ist nun mal nicht wünsch dir was, sondern immer noch Berlin, und wir können die Dinge nicht ändern, sondern nur, wie wir mit ihnen umgehen, hat garantiert auch der Buddha gesagt. Ich für meinen Teil bin dazu übergegangen, den Spontanverflossenen kurze mitfühlende Haikus zu senden. Kill them with kindness.

I practiced something I call the “Just Be Nice Campaign.” It’s just what it sounds like. I was just nice. When I got annoyed, scared, frustrated, felt not heard, got triggered—I was just nice. I kept my side of the street clean. I still spoke to someone and/or wrote about my feelings, but I didn’t take problems or negativity to my partner. I also got more clarity on what was actually a problem versus me simply being reactive. (aus: How Mindfulness killed my Sex life)

 

Ask your doctor if my fantasy is right for you w/ #FeliceCasorati.

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Mir gefällt dieser Gedanke, meine Seite der Straße sauber zu halten. Mich nicht zu genauso beschissenen Angewohnheiten hinreißen zu lassen. Den Ball nicht NOCH flacher zu halten.

Ab und an höflich darauf hinweisen: dumm ist der, der Dummes tut, Jenny. Und dabei trotzdem irgendwie freundlich zu bleiben.

„Du bist auf eine so Art und Weise schön, dass andere Leute sich in deiner Gegenwart auch schön fühlen. Ich wünschte, du könntest dich selbst sehen. Alles Gute für dich, that´s it.“

Möchten Sie dieses Gesicht wirklich blockieren? Beziehungsstatus: mein Rückgrat und ich. Weil purer Zynismus für immer zu einfach sein muss. Und ja, die nächste Bahn ist dann unsere.

Titelfoto: Aaron Tsuru (c) tsurufoto.com

Bilder: Texts from Your Existentialist.

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

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