Sexarbeit ist überall – Flashmob zum Welthurentag

Wenn du rein zufällig vergangenen Dienstag im Berliner Feierabendverkehr unterwegs warst, hat sich dir unter Umständen vielleicht folgendes Bild geboten: sechs Mädels betreten durch verschiedene Türen die Ubahn, ein Ghettoblaster mit „Human Nature“ von Madonna auf voller Lautstärke. Drei davon ziehen weiße Masken auf und werfen ihre Mäntel ab. Darunter zum Vorschein kommt: nicht besonders viel Stoff, primär Lack, Leder und Schottenkaro. Die langen Beine mit den schwarzen Plateauheels schwingen sich um die Haltestange. Die beiden anderen leichtbekleideten Ladies verteilen Flyer im Abteil.

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Als meine liebe Freundin, die Kulturwissenschaftlerin, Tabletänzerin und Autorin Funny van Money mich neulich gefragt hat, ob das Lvstprinzip nicht Lust hätte, sie und ein paar andere Sexarbeiterinnen zu einem Flashmob zum Welthurentag zu begleiten, hab ich natürlich sofort zugesagt.

Sexarbeit? Das ist übrigens nicht nur die politisch korrekte Bezeichnung für Prostitution, sondern auch die einzige, die das volle Spektrum dieses Berufsfelds umfasst: Stripper, Prostituierte, Pornodarsteller, Tantra-Masseure, Dominas und Sklaven.

Hättest du uns vor der Aktion in Alltagsklamotten nebeneinandergestellt – viel Glück dabei, herauszufinden, wer von uns die Domina ist, wer die Burlesquetänzerin, wer die Sexbloggerin, wer die Stripperin, wer die Dokumentarfilmerin und wer die klassische Prostituierte.

Sexarbeit ist überall, aber sie ist unsichtbar. Warum? Volkmar Sigusch hat das neulich in seinem fulminanten SZ Magazin Interview mal wieder wunderbar auf den Punkt gebracht:

Leider sind wir so bigott, dass wir Prostituierte für etwas verachten, das wir alle mehr oder weniger machen müssen, wenn wir überleben wollen. Schauspielerinnen lassen sich operieren, um eine Filmrolle zu bekommen. Abertausende von Angestellten kriechen ihrem Chef in den Hintern, um ihren Arbeitsplatz behalten zu dürfen. Nein, ich beteilige mich nicht an der Hatz auf Prostituierte. Und wissen Sie, welche Erfahrung ich im Laufe meiner Arbeit gemacht habe? Je aggressiver öffentliche Personen gegen Prostituierte auftreten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie deren Dienste in Anspruch genommen haben.

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Die supercoole Theresia Reinhold hat die Guerillia-Aktion mit der Kamera begleitet. Aus personenschutzrechtlichen Gründen nicht mit im Bild: die Gesichter der anderen Ubahnfahrer, auf denen sich oft ein ziemliches Volksfest abgespielt hat. Wir haben die Nummer in acht Zügen durchgezogen, und die Publikumsreaktionen waren wirklich der Kracher:

1. Berliner Genervtheit, lieber erst mal wegschauen – wat wollen die denn schon wieder? Ich geb kein Geld!

2. Doch-mal-langsam-vorsichtig hinschielen

3. Ungläubigkeit: Tanzt die da an der Stange? DIE TANZT DA ECHT AN DER STANGE

4. Amüsement, Verwirrung, Applaus, Kopfschütteln, „Viel Glück!“-Rufe. Flyer nehmen, Flyer ablehnen.

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Alles dabei. Kalt gelassen hat die Aktion jedenfalls wirklich niemanden. Sexarbeit ist ein kompliziertes Thema und eines, bei dem auch ich selbst oft an Grenzen stoße. Wenn ich mich mit den verschiedenen Pseudonymen meiner Sexarbeiter-Bekannten verheddere, aus Versehen schon wieder „Nutte“ sage, oder halt manchmal mit berufsbedingt unverhohlener Neugierde wissen will, was da jetzt konkret wirklich abläuft, so im Einzelnen. Aber eine Sache habe ich inzwischen gelernt: es bringt nichts, über Sexarbeit an sich zu urteilen und zu versuchen für andere zu entscheiden, was daran jetzt gut, richtig, falsch oder schlecht ist. Es gibt einfach so viele Einzelfälle und Komponenten, die das Thema extrem komplex machen. Ich weiß nur: Sexarbeit ist überall, und wir sollten aufhören so zu tun, als wäre es nicht so. Falls du Sexarbeiter/innen kennst – rede lieber mit ihnen, statt über sie. Hier die Botschaft vom Flyer der Aktion:

LIEBE U-BAHN FAHRERIN, LIEBER U-BAHN FAHRER,

HABE KEINE ANGST.

WIR SIND NUR SEXARBEITERINNEN.

WIR TRAGEN MASKEN WEIL WIR STIGMATISIERT SIND.

UM EINEN NORMALEN ALLTAG IN UNSERER GESELLSCHAFT LEBEN ZU KÖNNEN, MÜSSEN WIR SEXARBEITER_INNEN UNSERE BERUFE NOCH IMMER VERSCHWEIGEN.

BEI DEM VERSUCH OHNE MASKEN ZU LEBEN, ERFAHREN WIR OFT BELASTENDE KONSEQUENZEN.

WIR ERFAHREN IN EINE ECKE GESTELLT UND NUR NOCH ALS SEXARBEITER_INNEN WAHRGENOMMEN ZU WERDEN.

WIR ERFAHREN WIE SICH BEKANNTE UND FREUNDE AUFGRUND UNSERER BERUFSWAHL ABWENDEN.

WIR ERFAHREN VORURTEILE UND ÜBERGRIFFIGE ÄUSSERUNGEN VON FREMDEN.

WIR ERFAHREN WIE ROLLEN IN UNSEREM TÄGLICHEN LEBEN DURCH EINE DEMASKIERUNG IN GEFAHR GERATEN. ROLLEN WIE ‚GUTE MUTTER‘, ‚VERLÄSSLICHE_R ARBEITNEHMER_IN‘, ‚ANNEHMBARE_R MIETER_IN‘, ODER ‚WOHLGERATENES KIND‘.

EHRLICH GESAGT: WIR VERSTEHEN NICHT WARUM.

FÜR DAS NEUE PROSTITUIERTENSCHUTZGESETZ DER GROßEN KOALITION IST GEPLANT, ALLEN SEXARBEITER_INNEN DIE MASKEN ABZUREISSEN. ZUSÄTZLICH ZUR STEUERLICHEN ERFASSUNG, SOLL EINE BEHÖRDLICHE ZWANGSREGISTRIERUNG ERFOLGEN, DAS NACHWEISDOKUMENT MUSS MITGEFÜHRT WERDEN UND OUTET JEDE_N INHABER_IN ALS PROSTITUIERTE_N.

DIESES GESETZ SOLL UNSEREM SCHUTZ DIENEN. SOLANGE ABER DIE GESELLSCHAFTLICHE STIGMATISIERUNG VON SEXARBEITER_INNEN BESTEHT, FÜHLEN WIR UNS DURCH DIESE ZWANGSDEMASKIERUNG GEFÄHRDET STATT GESCHÜTZT.

SPRECHT MIT UNS, STATT ÜBER UNSERE KÖPFE, KÖRPER UND MASKEN HINWEG ZU ENTSCHEIDEN.

SPRECHT MIT UNS, STATT ÜBER UNS.

GEGEN DIE STIGMATISIERUNG VON SEXARBEITERINNEN.
__________________________
Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen
www.berufsverband-sexarbeit.de

Allgemeine Fragen und Politik:
Johanna Weber – johanna@berufsverband-sexarbeit.de – 0151-1751 9771
Alle Bilder (c) Theresia Reinhold / zitterart.de

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

5 Kommentare

  • Antworten Juni 5, 2015

    Carina

    Ganz toller Artikel, Theresa.
    Und eine aufrüttelnde Aktion!
    Liebe Grüße,
    Carina

    • Antworten Juni 5, 2015

      Theresa

      Vielen Dank, liebe Carina! Es gab ein paar echt gruselige Momente bei der Aktion – kleine Kinder oder besoffene Jungsgruppen in der Ubahn und das Safeword RAUS! Aber es hat sich gelohnt, und solange wir damit zum Nachdenken anregen können, war es den Adrenalinkick allemal wert…

  • […] U-Bahn. Zum Welthurentag am 2.Juni machten sechs Ladies eine richtig gute Aktion, berichtet das lvstprinzip. Sie „betreten durch verschiedene Türen die Ubahn, ein Ghettoblaster mit “Human Nature” von […]

  • […] Porn am Donnerstag um 12:15 und Freitag um 19:30. Ihr erinnert euch an unsere superspannende Ubahn-Aktion im Sommer, bei der wir zum Welthurentag auf die öffentliche Demaskierung von Sexarbeit aufmerksam gemacht […]

  • […] über ihn – das ist eine der Hauptmissionen hier auf Lvstprinzip. Und dasselbe wünschen sich Sexarbeiterinnen: dass wir mit ihnen sprechen, statt immer nur über ihre Köpfe hinweg entscheiden zu wollen, was […]

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