9 Dinge, die ich auf einem Sexualmedizinerkongress über die Liebe gelernt habe

Sexualmedizinerkongresse sind so wie Uni, nur teurer und sie dauern länger und in den Pausen darf man Penispumpen testen und sich über neue Scheidenpilztherapiemöglichkeiten informieren. Gelernt hab ich natürlich auch so einiges…

Ich bin Journalistin geworden, weil ich chronisch neugierig bin, weil es mir Spaß macht, zu schauen was die anderen so machen, weil ich es liebe, mich in komische neue Situationen zu begeben und zu schauen, was die mit mir so machen. Ich schreibe seit über acht Jahren über Sex, weil es für mich kein zweites Thema gibt, das so viel Entdeckungspotential bietet und an dem sich die oft mehr oder weniger willkürlichen Ideen unserer Gesellschaft besser beobachten lassen. Ihr wisst das eh, aber ich sags einfach noch mal: Ich bin keine Ärztin. Ich bin keine Therapeutin. Lassen Sie mich durch, ich bin Literatur- und Kommunikationswissenschaftlerin! Und ich finde vieles spannend und deswegen dachte ich mir auch beim Kongress Sexualmedizin Interdisziplinär sofort HALLO HIN DA und verbrachte freiwillig mein Wochenende in einem 80erjahre Krankenhaushörsaal ohne Fenster. Das ganze hat sich definitiv mehr nach Uni angefühlt, als die Yeahyeah-Konferenzen auf denen ich so spreche.

Ich konnte nicht sämtlichen der straff getakteten 15-Minuten-Talks komplett folgen, weil ich ja, wie gesagt, eher so ein Geisteswissenschaftler-Jodeldiplom habe, wenn auch ein doppeltes und mit Auszeichnung, und ich bitte deshalb auch inständig, meine Notizen eher zum Unterhaltungswert als als medizinische Beratung zu nehmen, weil ich keine der Studien und genannten Zahlen persönlich nachrecherchiert habe, was selbstredend ein journalistisches Verbrechen ist – aber hey, ich hab auch nur einen Sonntag in der Woche und an dem muss ich auch noch sehr, sehr viel Kaffee trinken, Brot backen und Zeitung lesen im Bett. So without further ado, hier ein paar Sexualmediziner-Weisheiten!

1. Sexualität ist ein Menschenrecht.
Klingt erst mal logisch, aber ich bitte um einen Moment andächtiger Kontemplation, in dem ihr euch noch mal die wunderbare Definiton der WHO, nach der auch dieser Kongress ausgerichtet ist, auf der Zunge zergehen lasst:

Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich nur erlangen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden. Es bleibt noch viel zu tun um sicherzustellen, dass Gesundheitspolitik und -praxis dies anerkennen und widerspiegeln. (Quelle)

2. Nachhaltigkeit im Bett – Auch als gestandener Mediziner kann man erstaunlich emotional bis esoterisch über das Wunder der Sexualität und „Mutter Natur“ (sic!) referieren. Zugegebenermaßen scheint es schon ein großer Evolutionsschritt Richtung endokriner Innenpolitik, die Reproduktion vom außen (wie bei Fischen, die eher unsexy durch eine Spermawolke schwimmen) ins Innen zu verlagern und was sich beim Sex so alles tut, kann einen schon mal ins Staunen versetzen.

Was ich vor diesem Wochenende auch noch nicht wusste: die Spermaflüssigkeit des Mannes legt beim ersten Sexualkontakt (ohne Kondom) eine Art Blaupause an, ein „immunologischer Tsunami“, wie das der ergriffene Wissenschaftler auch nennt – um den Körper so auf eine potentielle Schwangerschaft vorzubereiten. Die T-Zellen erstellen eine Art „Passierschein“ und erlauben dem Sperma so den Durchgang. Erhobener Medizinerzeigefinger: „Da darf nicht jeder rein!“ Auf jeden Fall ein gutes Learning für Paare mit Kinderwunsch: möglichst viel vögeln für den Passierschein. Weil Frauen „hidden ovulators“ sind, muss ohnehin meist häufiger Geschlechtsverkehr stattfinden, das lohnt sich aber auch so, weil bei jedem Mal (und zwar übrigens bei beiden!) Oxitocyn ausgeschüttet wird und ein nachhaltiger Prägeimpuls ausgelöst wird.

Und ja, genau dieses Zeug wird auch ausgeschüttet, wenn ihr eurem Wauzi in die Augen schaut. Er hält euch dann für seinen Intimpartner. Now let that marinate.

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Beim Zweibeinerpaar ist dieses Oxitocyn jedenfalls eine ziemlich intelligente Angelegenheit, weil Kinder ja meist eher „unreif zur Welt“ kommen und die Elternaufzucht der dringend notwendigen Erhaltung der Art dient. Erstaunlich oft fiel insgesamt das Wort „Nachhaltigkeit“, und auch ich fühlte mich auf einmal ganz feierlich bei dem Gedanken, nicht einfach nur Spermawolken zu durchschwimmen. Hach!

3. Ein Thema, das die nächsten Jahre sicherlich noch brisant werden wird: genetische Fitness– Stichwort, Schluck, Ovarielle Reserve. Die meisten Frauen, so die Wissenschaftler, überschätzen nämlich die Länge ihrer fruchtbaren Phase. Proaktiv frisch ans Werk konnte man direkt vor dem Hörsaal Blut abzapfen und seinen AMH-Wert messen lassen, der einem mitteilt, wie lange man sich noch in Punkto Vereinbarkeit von Familie und Karriere entspannen kann und die nervigen Fragen der Verwandschaft ala „hättest du langsam nicht auch mal Lust auf was Kleines?“ ignorieren darf. Ratet mal, wer das direkt gemacht hat?

Gee-nau. Die Laborergebnisse kommen irgendwann nächste Woche, bis dahin überlege ich mir noch, ob ich den Umschlag aufmache. Vielleicht doch, um beim Weihnachtsessen sagen zu können: so in 57 Eizellen dann, Tante Sieglinde! (Jaja ich weiß. Gnadenlose Uterus – Selbstüberschätzung schon wieder)

Spannend an diesem Vortrag, wie auch an dem nächsten über „alte Gebährende“ fand ich vor allem auch das, was mal wieder mit keinem Wort erwähnt wurde – nämlich, dass Fertilität keinesfalls nur ein „Frauenproblem“ ist und die männliche biologische Uhr exakt genauso laut tickt. An der lässt sich aber vielleicht nicht ganz so gut schnippeln und vermessen und kritisieren.

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UPDATE: Ich habe meinen ausführlichen Testbefund von Ivary zurückerhalten. So ein überdurchschnittlich fruchtbarer Leib ist doch auch schön fürs Ego. Och, irgendwann so in den nächsten zehn Jahren dann, Tante Sieglinde….

4. Aus einem historischen Abriss über die Tabuisierung von Sexualität sind folgende Infos bei mir hängengeblieben: im alten Ägypten ging es deutlich gechillter zu als heute, es gab nicht mal ein Wort für „Jungfrau“  – wie so oft hat das Christentum hier einiges versemmelt, wobei das Mittelalter an Doppelmoral kaum zu überbieten war. Im zweiten Weltkrieg gab es übrigens von Soldaten organisierte Vergewaltigungen von Studentinnen, weil Platz Frau -> Küche, und so. Unsere Probleme heute liegen zum Glück woanders, laut Referentin besteht das Tabu eher darin, mal NICHT „für alles offen“ zu sein. War früher vor allem die Frau damit überfordert, gefallen zu wollen und Orgasmen vorzutäuschen, stehen heute zunehmend auch Männer unter Druck. Gleichberechtigung und so! Der Kracher war allerdings die Anekdote der Sexualtherapeutin zum Abschluss: das Pensionisten-Ehepaar in traditioneller Tracht auf ihrer Couch, dessen erster Satz des Mannes sie inspirierte, dieses Thema zu ihrem Beruf zu machen: „I würd ihra so gern amoi wieder in die Semmel rotzen.“ Wohl bekomms! Was lernen wir daraus? Welche Sprache man für diese Untenrum-Dinge findet, ist eigentlich egal, solange sie beide sprechen und verstehen.

5. Kriminalpsychologen haben einen sehr eigenen Sinn für Humor, und unerwarteterweise habe ich mich ausgerechnet beim Vortrag „Sexuelle Gewaltphantasien – sexueller Sadismus“ komplett weggehauen. Während wir auf der einen Seite also beobachten, dass BDSM-Phantasien auf einmal schicki sind, erinnert der Vortragende daran, dass Sadisten selten im Privathelikopter ankommen wie Christian Grey – sondern meist eher in einem Uboot, wie im Fall der ermordeten Journalistin Kim Wall. Aber wo hört die sexuelle Vorliebe auf, wo beginnt die Paraphilie, was ist eine Neigung und was eine Störung? Das in 15 Minuten Talk zu beantworten käme dem Versuch gleich, mit einem Vibrator auf Erdöl-Bohrung zu gehen, kichernde Mediziner, Ruhe im Auditorium! Hier nur eine wirklich simple Faustregel: safe, sane und consensual findet BDSM mit inklinierenden Neigungen (sprich: einer mag Schmerz, der andere fügt sie gern zu) und genüngend Empathie und Introspektionsfähigkeit statt. Es geht mehr um die andere Person, als um den minutiös geplanten Akt und um die Frage: finde ich sexuelle Gewalt erregend? Oder erregt mich Gewalt sexuell? Food for thought. Weiters empfiehlt der Kriminalpsychologe übrigens das Fachbuch „Intimizid – zur Tötung des Intimpartners“ im Handgepäck für besonders anregende Gespräche mit dem Sicherheitspersonal am Flughafen.

6. There´s a special place in hell for women who don´t support other women – in diesem Fall Gerti Senger. Sie ist so was wie die österreichische Dr. Sommer, das Aufklärungs-Urgestein der Nation und findet /auch auf die Gefahr hin mich damit unbeliebt zu machen aber wird man ja wohl noch sagen dürfen/ die ganze #metoo-Debatte richtig überflüssig. „Wo bleibt denn da die Sexualität, sollen wir alle denn nun für immer unseren Blick abwenden?“

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Für good old Gerti ist #metoo Ausdruck unserer Geständniskultur, der Ent-Intimisierung des öffentlichen Raumes. Ihre Zahl der Domian-Anwärter für jede Sendung, also die die so pro Sendung angerufen haben um über ihre Probleme zu erzählen, fand ich dann doch schockierend. Haltet euch fest: 20-40.000. Jede Nacht. Gesprochen hat Domian im Schnitt mit 6-10. Was machen die denn jetzt alle?

7. Noch eine wie ich finde sehr aufschlussreiche Zahl: das häufigste Sexproblem bei Männern ist: der frühzeitige Samenerguss, der anscheinend bei rund 40% aller Typen auftritt. Der Großteil sucht dafür jedoch keine wie auch immer geartete Therapie. Das am häufigsten behandelte Problem dagegen: erektile Dysfunktion. Die stört halt anscheinend einfach mehr. Insgesamt, und auch diese Zahl bitte jetzt mit einer Dosis Skepsis konsumieren, gehen die lieben Ärzte davon aus, dass jede 3. Frau und jeder 4. Mann in ihrem Leben ein erhebliches Sexualität mit Leidensdruck hat. Wir sitzen anscheinend also irgendwie doch alle im selben Boot. Dafür weiß ich jetzt sehr genau, wie Penisimplantate funktionieren. Das Bildmaterial von den Operationen wird mich noch ein Weilchen verfolgen. Für alle, die es nicht so weit treiben wollen: laut Vortragendem wirken auch 3-4mal Sport in der Woche Wunder für die Libido.

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8. Klares Lieblings-Pharmaindustrie-Frauenproblem: die Unlust der Frau. Mit Flibraserin, ursprünglich als Antidepressivum entwickelt, soll ja einiges richtung „Pinkes Viagra“ gehen. Vielleicht auch doch mal bei den 40% Früh-Ejakulieren anrufen ob sie nicht doch mal… Scherz beiseite, Bände spricht nämlich eine Studie mit Oxytocin. Bei 2/3 aller Studienteilnehmerinnen verbesserte sich der Sex nach einigen Wochen. Allerdings genau so bei denen, die ein Placebo bekommen hatten. Tagebuch führen, Lifestyle Modifications, fest dran glauben und gutes altes DRÜBER REDEN hatten also exakt denselben Effekt wie Hormone schlucken. #justsayin. A propros Hormone: schon wieder spannend, weil mit keinem Wort erwähnt: was die Anti-Baby-Pille mit unserer Lust alles anrichten kann. Alles muss man selber schreiben – bald mehr hier im Blog!

9. Masturbation ist Medizin. Den Vortrag „Vaginale Optimierung“ wollte ich aufgrund des Titels natürlich direkt hassen, aber dann ging es darum, wie Frauen mit Gebärmutterhalskrebs nach der Strahlentherapie ihren Körper wieder zurückerobern können. Ich gebe das jetzt garantiert medizinisch komplett inkorrekt wieder, aber der Vaginaleingang kann danach tatsächlich komplett verkleben. Um das zu verhindern, bekommen die Patientinnen Dilatoren, was ein fancy Medizinwort für Hartplastikdildos mit der Erotik von Reagenzgläsern ist. Ich wollte laut „gebt ihnen doch Vibratoren!“ schreien und zack – genau das wird von der unkonventionellen Psychoonkologin inzwischen auch empfohlen. Und dann gab es gleich noch ein bisschen historisch wertvolle Materialkunde on top: was wir heute ganz tiefenentspannt onlineshoppen, gab es Anfang der Nullerjahre noch für 400 Dollar auf Rezept: die Urform des Womanizer. Hier das wunderbare Promovideo zum allgemeinen Amüsemang:

Spaßvideos beiseite, rund 41% aller Zervixkarzinompatientinnen sind nach der Bestrahlung zusätzlich zu den körperlichen Verarbeitungsprozessen auch psychisch traumatisiert und müssen sich langsam ihre Sexualität zurückerobern. Das kann man „vaginale Optimierung“ nennen – oder eben: Beharren auf einem Menschenrecht, siehe Punkt 1. Ich war jedenfalls extrem berührt davon, wie die Therapeutin ihre Patientinnen auf ihrem Weg zurück in den eigenen Körper hilft und finde, das gilt auch für uns Gesunde: liebt euch! Sex ist ein Wunder! Und unser Menschenrecht.

 

Disclaimer: Ich hatte eine selbst organisierte Presseakkreditierung für die Veranstaltung und durfte kostenlos daran teilnehmen. Der Eierstocktest von Ivary war für Veranstaltungsteilnehmer gratis.

Titelfoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

3 Kommentare

  • Antworten November 22, 2017

    Bella

    Danke!
    Du bist großartig!

  • […] es Frauen, die mit dem Womanizer den ersten Orgasmus ihres Lebens hatten – und seit ich am Sexualmedizinerkongress vergangenes Wochenende so ganz unverhofft noch viel mehr über die pulsierende Druckwellentechnologie gelernt habe, die in […]

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