Degrowth is beautiful

Ich will das so nicht mehr schreibe ich Anfang März einer Kollegin, die genau wie ich gerade halbkrank irgendwo zwischen Terminen im Zug hängt. Es ist einer von sehr vielen dieser Tyler-Durden-Momente, in denen man vergisst, wo man gerade ist, wo man hinwill und vor allem auch sehr oft: warum. “Ich meine, wir predigen hier Mental Health und fuck the system und beuten uns dabei einfach nur selber aus. Ich will das nicht mehr. Ich will heim in mein Bett und lesen und schreiben und kochen und nicht im Zug wohnen.”

Careful what you wish for, denke ich mir eine Woche später. Dieses Jahr, das durchgeplant war wie keins zuvor, weil das ja mein Jahr hätte werden sollen, ist abgesagt. Sämtliche meiner Termine, die teilweise bis in den Spätherbst hinein eingetaktet waren, gecancelt oder auf unbestimmte Zeit verschoben. Großprojekte auf Eis gelegt, meine Ausbildung, mit der ich im Juni hätte fertig sein sollen, erst mal on hold, so wie alles, weil das die Welt ist jetzt.

Meine Timeline füllt sich mit Gratiskonzerten und Gratislesungen, Gratis-Coachingangeboten und guten Tips, Tagesabläufe strukturieren ist wichtig, morgens doch bitte geschminkt an den Laptop, gesunde Ernährung, auf keinen Fall dick werden jetzt, it´s okay not to be okay, aber irgendwie auch okay wenn´s okay ist, okay?

Whataboutism über Abstandsregeln und Dachterrassen und die, die noch rausgehen, und warum wer Bananenbrot bäckt und ob Yoga nicht doch eigentlich scheiße ist, so lange bis eine*r laut „Privileg“ schreit und wieder kurz Ruhe ist. Ich fühle den Horror Vacui und den Kontrollverlust und die Angst davor, wer man ist, wenn keiner mehr zusieht, weil wir in Wirklichkeit alle so hart dringend gesehen werden wollen, dass es manchmal kaum auszuhalten ist, und deswegen schreien wir uns jetzt halt im Supermarkt an, wenn wir gleichzeitig nach demselben Produkt greifen. Deswegen reden wir vom Danach und vom Neuen Normal, statt vom Jetzt, obwohl das ja wirklich alles ist, was wir haben. Ich gebe das 49. Interview zu meinem Buch LVSTPRINZIP und finde das alles extrem lang her.

Ich frage mich, ob Prepper jetzt eigentlich gerade beleidigt sind, und warum niemand sich mehr in die Augen schaut, wieviele Menschen sich gerade wirklich so „nur für sich“ ihre Beine rasieren, für wen meine Nachbarin diese Lockenwickler trägt, ob meine Lieblings-Supermarktkassiererin eigentlich weiß, dass sie mit ihrem Lächeln die komplette Macht darüber hat, aus meinem Scheisstag doch noch einen guten zu machen, und wann wir uns eigentlich kollektiv eingestehen werden, dass wir uns eben doch brauchen, und dass das vielleicht okay so sein kann, manchmal, unter Umständen, vielleicht sogar schön. Wann Sex für nicht-Paare wieder systemrelevant sein wird oder sein darf, für wen wir in Zukunft Tröpfcheninfektionen riskieren wollen, ob Menschen sich jetzt auch mal anderer Fragilitäten bewusster werden, ob Anfassen jetzt mehr bedeutet.

„Ich kann gut allein sein“, ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon gesagt hab in meinem Leben, er stimmt, zumindest bis zu dem Punkt, an dem ich einen guten Freund so lange umarme, dass mich nur noch seine Arme davon abhalten in eine Milliarde Einzelteile zu zerspringen.

Aber wahrscheinlich ist so Erwachsensein. Immer mehr das Gefühl von den shit together zu haben und gleichzeitig immer mehr in 1000 Teile zerspringen und alles passiert immer gleichzeitig und Erwachsensein heisst, es aushalten, obwohl das alles so unglaublich absurd ist“ schreibe ich Anfang März einer Freundin im Zug.

„Aber du wolltest das doch” sagt die eine Stimme in meinem Kopf, und: “jetzt sei doch mal dankbar”. „Du bist doch so erfolgreich jetzt” sagen Leute, die mich lang nicht gesehen haben, anstatt mich zu fragen wie´s geht, weil man ja sowieso glücklich zu sein hat, wenn man erfolgreich ist, reich sowieso, alles andere wäre ja auch verrückt.

In den Funklöchern dazwischen frag ich mich sehr oft: wozu? Wozu ständig über meine Arbeit zu reden, anstatt meine Arbeit zu machen, auf riesigen Events rumzuspringen für die ich eigentlich viel zu introvertiert bin, Klamotten kaufen um einer sozialen Erwünschtheit zu entsprechen von Menschen, deren Erwartungen mich eigentlich nicht interessieren, schnell ein paar Tage Urlaub irgendwo zur Belohnung, dann wieder Interviews, Podiumsdiskussionen, Meetings. Keine Angriffsfläche bieten, Vulnerabilitäten genau kalkulieren, es können, es mögen, dass ich das kann.

„Wann hab ich eigentlich angefangen, mich dafür zu interessieren, was andere Leute über mich denken?“ fragt eine Freundin mich und auch sich selbst, als wir heimlich im Park trinken, mit Sicherheitsabstand natürlich, und Safeword. „Ananas!“ sobald Polizei vorbeikommt, und jede starrt unbeteiligt auf ihr eigenes Handy.

Ich weiß es nicht genau, und dann irgendwie wieder schon. „Degrowth is an option“ schreibt eine sehr schlaue Frau aus dem Internet. „Es gibt so etwas wie intelligentes Nichtstun“ sagt Uli Clement in meiner Onlinefortbildung. „Es geht nämlich sowieso immer weiter.“

„Keinen Erfolg zu haben, ist das Beste was einem passieren kann“ sagt eine andere Freundin. „Dann erwartet nämlich keiner was von dir. Dann kannst du in Ruhe das machen, was du am liebsten machst.“ Zum Beispiel: Sätze zuende denken. Geschichten fertig erzählen. Die Gefühle fühlen, die gefühlt werden wollen. Mir überlegen, wie ich mein Leben verbringen will, und mit wem, und warum. Die Staubflusen unter meiner Küchenzeile zählen, die ich erst sehe, seit ich da im herabschauenden Hund auf meiner Yogamatte rumhänge. Mich langsam mal reinentspannen in alles, was gerade so los ist.

Zwei Listen schreiben:

  • Dinge, die ich kontrollieren kann
  • Dinge, die ich nicht kontrollieren kann

Und jetzt, wo es ja auch schon irgendwie egal ist, anfangen, etwas sehr schönes Neues zu erschaffen. Für mich, und dann hoffentlich bald auch für euch. Hang in there. We got this. Seid lieb zu euch selbst und den Leuten um euch herum. Es geht sowieso immer weiter.

 

Titelbild: (c) Scoop.Io

Theresa

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

5 Kommentare

  • Antworten Mai 7, 2020

    Leo

    Boah HALLO, wie gut ist dieser Text bitte!
    Hing quasi digital an deinen Lippen und bin sehr begeistert von der Schreibe. Und den klugen Gedanken vor allem.
    DANKE DAFÜR!
    (Auf dass auch solche Kommentare den Tag ein bisschen besser machen)

  • Antworten Mai 12, 2020

    Kerstin

    Danke, dass du diese ehrlichen Gedanken mit uns teilst! Sie haben etwas tief in mir berührt.
    Danke für die Erinnerung: „Es gibt so etwas wie intelligentes Nichtstun“!

    • Theresa
      Antworten Mai 14, 2020

      Theresa

      Das freut mich sehr, liebe Kerstin. Ich wünsch dir viel intelligentes Nichtstun!

  • […] Degrowth is beautiful […]

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