Die Fremde, mein Spiegelbild und ich – ein Text von Alessa

Ich stehe vor dem Spiegel. Nackt. In mehrerer Hinsicht.
Ich sehe meinen Körper zum ersten Mal wirklich. Und erkenne mich nicht, in dem was ich dort sehe. Diese Frau, die mich zögernd anlächelt, leicht verschüchtert, ist neu für mich.

Alles begann, als ich 5 Jahre alt war.

Es wird durch Stress-Situationen getriggert, sagen die schlauen Bücher. Ich habe sie alle gewälzt, als ich alt genug war, mich damit auseinanderzusetzen. Angeborener genetischer Defekt. Zu schnelle Zellerneuerung. Klingt alles sehr logisch und eigentlich eher wie eine Superkraft, als das, was es wirklich ist, wenn ich die letzten 25 Jahre in den Spiegel geschaut habe: Eine Form von Entstellung.

Ich habe Psoriasis, eine Hauterkrankung in extremer Form, solange ich denken kann. Ich kenne mich nicht ohne. Was diese Frau im Spiegel nun so fremd macht.

Ich sehe sie zum allerersten Mal mit intakter, glatter, schuppenfreier, wunderschöner Haut. Überall.

Sie muss sich nicht mehr verstecken. Sie muss nicht mehr behaupten, Schwimmbäder, Thermen und Strand-Tage langweilig zu finden. Sie muss nicht mehr panisch ihre Pullover-Ärmel nach unten ziehen, aus Angst, jemand könnte die Flecken sehen, bei denen jeder der sie sieht, einen Schritt zurück macht und die schmerzhafte Frage stellt, ob dass da ansteckend ist. Den leichten Ekel im Gesicht geschrieben.

Sie muss nicht mehr vor Beziehungen, One Night Stands oder sogar unverfänglichen Knutschereien in der Disko zurückschrecken, aus Angst, ihr könnte jemand unter das T-Shirt greifen. Ihr wohlgehütetes Geheimnis entdecken.

Dass sie sich selbst hasst. Dass sie sich selbst abstoßend findet. Dass sie noch so eine schöne Figur haben kann und sich trotzdem abgrundtief häßlich findet.

Ich war 20, als ich das erste Mal ernsthaft eine Beziehung eingegangen bin. Und auch nur, weil ich zuvor gerade drei Wochen im Urlaub war und Sonne und Salzwasser meiner Haut eine kurzfristige Erleichterung verschafft haben. Als sie nach einem Monat nachließ, beendete ich die Beziehung, zu einem für mich perfekten Menschen, aus Angst, es nicht ertragen zu können, von ihm abgelehnt zu werden.

Ich war 24, als ich meine Jungfräulichkeit verlor. Und 27, als ich aus dieser Beziehung ausbrach, in der einfach nie darüber gesprochen wurde, wie ich aussah.

Ich steckte fest, in einem Körper, den ich hasste.

Also setzte ich alles auf eine Karte und begann eine neue Art der Therapie. Und nach vielen Auf und Abs und fast unerträglichen Nebenwirkungen schlug sie tatsächlich an.
Und diese hübsche Frau im Spiegel tauchte auf. Wie aus Zwiebelschalen gepellt.

Ich fasse sie an, ich teste sie aus, ich fühle sie, ich befühle sie.

Ich stelle alles mit ihr an, was ich ihr 28 Jahre lang verwehrt habe, aus Angst vor Ablehnung und Mangel an Selbstliebe.

Ich bin im Kopf wie ein Teenager, der austestet, was man mit einem hübschen Körper alles anstellen kann. Wie Männer auf ihn reagieren. Auch wenn ich mich oft in Momenten der Röte noch daran erinnern muss, dass ich mich nicht mehr verstecken muss. Nichts von mir.
Ich gewöhne mich an meinen neuen Körper. Wie ich plötzlich im Spiegel aussehe. Wofür Bikinis tatsächlich gemacht sind. Und lerne endlich die Bedeutung von Selbstliebe.

Der Haken daran? Ich liebe immer noch nicht wirklich mich. Ich liebe die hübsche Hülle, aber sobald die Therapie ihre Wirkung verliert – eine Möglichkeit, die stetig wie ein Damokles-Schwert über meinem Kopf schwingt – werde ich zurückfallen in einen Körper, den ich keine Sekunde vermisse. Den ich verachte, der mich anekelt und der mich wieder isolieren wird.
Ich weiß nun wie sich Selbstliebe anfühlt. Wohlbefinden. Sich neben einem Mann genüsslich im Bett zu räkeln, ohne Scheu. Völlig nackt vor ihm aufzustehen und ins Bad zu gehen. Und sich dabei gut zu fühlen. Ohne einen Funken von Scham oder Selbstzweifeln über meinen Körper.

Ich wünschte, dieses Gefühl hätten wir alle in unserem Körper. Es ist berauschend. Und vielleicht nur dann überhaupt so vollkommen möglich, wenn man das andere Extrem davon kennt. Denn auch dieser neue Körper ist nicht perfekt. Aber so viel schöner, als mein alter es je war.

Ich wünschte, all die Frauen, die glauben nicht perfekt zu sein und dabei so unglaublich schön, hübsch, begehrenswert, unvollkommen, kurvig, androgyn und einfach einzigartig sind, wüssten, wie sich das anfühlt.

Wir sehen uns selbst immer nur durch unsere eigenen kritischen Augen. Ich wünschte, wir könnten uns eine Weile durch die Augen unserer Liebsten sehen. Unserer Herzens-Menschen, Lieblings-Freundinnen, all denen, die die Schönheit in uns sehen, selbst wenn wir sie nicht sehen.

Selbst dann, wenn wir uns eklig, abstoßend und unmöglich liebenswert finden. Denn dann würden wir endlich erkennen: Jeder Mensch ist liebenswert. Und unsere Hülle ist das letzte, was diese Liebenswürdigkeit bestimmt.

Ich für mich, arbeite daran, genau das zu sehen. Und nicht nur diese neue Unbekannte im Spiegel. Nur für den Fall, dass ich sie irgendwann wieder verliere…

Text: Alessa
Titelfoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com

Theresa

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

2 Kommentare

  • Antworten September 26, 2016

    Aviator

    Liebe Alessa,

    Dein Text hat mich getroffen wie ein Blitz. Mich übel mitgenommen und erfreut. Ja, das geht gleichzeitig. Meine Geißel hiess Neurodermitis, anders als Psoriasis, aber gleicher Effekt auf Selbstbild und Selbstbewusstsein. Hab’s heftig bekommen als ich 16 war. Prima Alter, um so richtig aus der Bahn geworfen zu werden und in erotischen Fragen einfach an gar nichts teilzunehmen, was andere in dem Alter erfahren und probieren.

    Wurde es mit Mitte 20 endlich los, hatte aber auch lange danach einfach ums Verrecken kein entspanntes Verhältnis zu meinem Körper. Habe einen Körperbau wie Adonis, keine Hautprobleme mehr und kann trotzdem bis heute (bin 47 Jahre alt) nicht ohne Arg und Sorge in den Spiegel sehen. Beim Flirten gibt es immer einen Moment, in dem ich z.B. plötzlich denke: “Was war das jetzt für ein Blick ? Galt der meinen sinnlichen Lippen oder einer kaum sichtbar geröteten Hautstelle?” Der Horror vor dem kritischen Blick mit der unausgesprochenen Frage “Was hat er denn für ein Problem? ”

    Danke für diesen Text, ich glaubte es lange los zu sein, aber es steckt noch in mir drin. Aber ich bin’s fast losgeworden. Ich pfeif’ einfach drauf.

    LG, Aviator

  • Antworten Oktober 5, 2016

    Alessa

    Lieber Aviator,
    ich weiß gar nicht, ob wir das überhaupt je ablegen werden. Ich glaube, das ist zu fest einzementiert. Aber man kann hoffentlich lernen, diese blinde Panik abzulegen. Diese einschießenden Gedanken (die hab ich auch, jedes Mal, wenn mein T-Shirt versehentlich hochrutscht) zum Verstummen zu bekommen.
    Meine neuste Taktik? Nur noch einmal die Woche in den Spiegel schauen. Vor allem jetzt, wo sich gerade kleine Anzeichen der Rückkehr bilden, die mich einfach nur komplett paranoid werden lassen.
    Denn eigentlich fühle ich mich in mir, in meinem Körper verdammt wohl mit mir selbst. Und die Hülle, das ist eigentlich auch nur etwas, das andere sehen, aber das mich nicht wirklich ausmacht. Zumindest nicht das, was wirklich wichtig ist.
    Grüße zurück,
    Alessa

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