Es muss egal sein dürfen

Omnia vincit amor – außer, wenn sie es nicht tut. Eine Liebesgeschichte, für die es (noch) kein Happy End geben kann.

Musen küssen, wann sie wollen. Also krakle ich eben meine komplette Speisekarte voll, während das Crushed Ice im viel zu starken Ca Phe meines Saigoner Lieblingscafés langsam knackend schmilzt. Ich schreibe irgendwas superschlaues über zwischenmenschliche Begegnungen. Darüber, wie schwierig und komisch es oft ist, die Hand auszustrecken und zu sagen „Hallo, das bin ich. Wer bist du? Siehst du mich?“ und wie leicht es sein kann, wenn es sich richtig anfühlt.

Als ich den Kellner um eine zweite Karte bitte, weil die erste vollgeschrieben ist, setzt SIE sich genau gegenüber zu mir an den langen Holztisch.

Sie ist groß, fast so groß wie ich, und auf unaufdringliche Weise hinreißend. Angeblich wurde Michelangelo mal gefragt, wie genau er David erschaffen hätte, die bekannteste Skulptur der Kunstgeschichte. Seine Antwort: Das war ganz einfach. Er hätte einfach nur einen Marmorblock genommen und alles weggemeißelt, was nicht David ist.

Und diese Frau ist David: an ihr ist nichts, was da nicht hingehört. Ihr zerstrubbelter Pixie ist von der Sonne gebleicht, Sommersprossen sind ihr Make-Up, eine große Uhr ihr einziger Schmuck. Sie braucht nicht mehr. Ihr simples graues Kleid sitzt wie eine Umarmung von einem lange vermissten Freund. Sie ist so sehr genug, dass mir schwindelig wird.

Ich schreibe über selbstgewählte Einsamkeit und darüber, sie aufzugeben. Sehr viel später wird sie mir mal erzählen, dass sie mich sofort kennenlernen wollte, als sie mich da so gesehen hat. Schreibend, im Einklang, mit mir und dem Moment.

Der Kellner bringt ihren Goat Cheese Salad und vergisst das Besteck. Sie zieht eine „soll ich den jetzt mit den Fingern essen?“-Grimasse in meine Richtung, ich rufe den Kellner auf vietnamesisch zurück. Sie will wissen, woher ich das kann – Eis gebrochen. „My jinglisch like…piece of schit!“ erklärt sie mir mit breitem Russen-Akzent und noch breiterem Grinsen und zwei Grübchen in der Backe, in denen ich sofort rumpopeln möchte. Ihr Salat ist ziemlich schnell vergessen.

Die nächsten zwei Stunden erklärt Nia mir mit Händen und Füßen ihre Welt. Von ihrem „superdupertrashy“ Hostel, und wie sie das gesparte Geld hier für Essen verprasst, wie scheiße das Essen in Russland ist, und wie sehr sie Saigon nervt, und dass sie deswegen den ganzen Tag hier in meinem Lieblingscafé abhängt und primär mit Essen beschäftigt ist, und wie wahnsinnig froh sie jetzt ist, dass wir uns endlich kennen weil ich außer dem Essen ja wohl ganz klar das beste an dieser komischen Stadt bin.

Ich will, dass sie meine Hassliebe nachvollziehen kann, für Saigon, diese dreckige Schlampe, die mich jeden Tag abfuckt und beinahe umbringt und genauso oft zum lachen bringt und die ganze Nacht lang glitzert und mir so viel Energie raubt und noch viel mehr zurück gibt. Der Gestank nach Grillkohle, Abwasser und Orchidee, die Omis, die auf Verkehrsinseln Tai Chi machen, tiefenentspannt und komplett unbeeindruckt vom Hustle um sie herum.

Ich werfe Nia in ein Taxi pour le grand Tour durch Glitzertown: Bar, Restaurant, Drinks an der Straße, Rooftopbar, Freunde. Wir lachen uns tot. Sie versteht. Ich bin wirklich das Beste, was ihr hier passieren konnte.

Irgendwann landen wir auf einer superduper trashy 90s Party voller Saigoner Rich Kids und Englischlehrer, die sich als Spice Girls verkleidet haben. Wir tanzen zu Butterfly von Crazy Town und könnten genauso gut allein auf der Welt sein. Zwischen uns passt kein Blatt mehr. Ich spüre ihren Atem an meinem Hals, meine Hände wandern ihre Wirbelsäule hoch. Es gibt nur noch uns. Und dann wieder nicht.

“Was machst du?” fragt sie, als unsere Münder nacheinander suchen. “Das geht doch nicht, hier kann uns doch jeder sehen!” Die besoffenen Spice Girls um uns rum pogen inzwischen zu Nirvana. Was wir gerade tun, könnte niemandem auf der Welt scheißegaler sein. Aber ich sehe die Angst in Nias Augen.

Es ist eine Angst, die ich erst sehr viel später verstehen werde, als ich zufällig den NEON-Artikel Unwillkommen in Sotschi lese. Als ich verstehe, dass es Grenzen gibt, die weder dein Kopf noch dein Herz dir aufzeigen, sondern das Land, in dem du rein zufällig lebst.

Herzlichen Dank, dass du mir eine der besten Nächte meines Lebens versaut hast, Putin!
Auch Jahre später liken Nia und ich noch jedes einzelne fucking Selfie der anderen auf Facebook. Sie modelt inzwischen ein bisschen. Natürlich tut sie das.

Ich wünsche mir, dass es endlich egal ist. Dass meine vietnamesischen Tuckenkumpels keine Alibifreundinnen mehr nach Hause bringen müssen. Dass es auch im tiefsten Oberbayern endlich nicht mehr drauf ankommt, ob du Helene Fischer oder Florian Silbereisen heißer findest. Dass ich, egal wo auf der Welt ich gerade bin, die Person küssen kann, die ich küssen will, ohne Rücksicht auf das, was zwischen ihren Beinen ist.

Ich will diese Person küssen, bis ich mir nicht mehr vorstellen kann, jemals damit aufzuhören, und dann will ich sie heiraten, in ein fucking Reihenhaus ziehen, und unsere 1,8 Kinder so richtig scheißspießig streng erziehen. Und es muss einfach endlich egal sein dürfen. Gefühle sollten einfach und immer da sein dürfen. Ohne Grund, ohne Rahmen, ohne vermeintliche Bedrohung für irgendwelche konventionellen Werte. Egal wo auf der Welt. Es gibt noch echt viel zu tun.

 

Photo by Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com

Theresa

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

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