Wir können hier nicht die ganze Zeit einfach nur lockerflockig über Sexualität quatschen und dabei so tun, als hätte sie keine Schattenseiten. Eine von fünf ist angeblich weltweit betroffen, 30 % von ihnen innerhalb ihrer Beziehung. Kennst du noch die Sex and the City Folge, wo´s um Vergewaltigung geht? Nö, ich auch nicht. Es gibt sie nicht. Eine von fünf, sie saß wohl einfach nicht mit am Tisch, als munter über Blowjobs geplaudert wurde. Und wenn sie dabei gesessen hätte, hätte sie ihren Mund wahrscheinlich auch nicht aufgemacht. Ist ja auch kein besonders schönes Thema für so eine nette coole Mädelsrunde. Versaut womöglich auch die Stimmung schneller, als man Cosmopolitans hinterherkippen kann. Fakt ist jedoch: rein statistisch gesehen kennt wohl jeder von uns jemanden, der schon einmal körperliche Gewalt erfahren hat. Und jemanden, der gewalttätig war. Hier ist der Zeitpunkt für ein Trigger Warning: sexualisierte Gewalt in Beziehungen. Lies weg oder lies weiter. Es wird zur Abwechslung mal nicht schön. Aber dafür umso wichtiger.
Grauzonen – ein Brief an meinen Ex
Der Vermieter der Ferienwohnung wirft mir nur einen verständnislosen Blick und ein Schulterzucken zu, als ich ihn frage, wo denn die Terrasse sei, die im Internet in der Anzeige beschrieben war. Terrasse? Nö, das musst du falsch verstanden haben, bestimmt die Sprachbarriere, so ein Blick, und ich überlege tatsächlich einen Moment lang, ob es mein eigener Fehler war. Genau so, wie ich später überlegen werde, ob ich die Gewalt und den Missbrauch, den ich in dieser Ferienwohnung erfahre, auch eigentlich nur falsch verstanden habe. Das muss ein Missverständnis sein. So etwas würdest du nie tun.
Ich hatte dich um diesen Urlaub angebettelt, weil ich dich wiedersehen wollte. Wirklich wiedersehen, und nicht nur zwischen Bett, Tür und Angel oder im Büro. Obwohl wir beide in derselben Firma waren, hatte ich relativ schnell das Gefühl, den Job und die Deadlines besser im Griff zu haben als du. Du warst die Sorte Typ, die sich heroisch damit brüstet, „mal wieder die ganze Nacht lang durchgearbeitet“ zu haben. Ich wusste damals schon, dass das oft einfach nur ein Zeichen von schlechtem Zeitmanagement ist.
Ich bekam bessere Aufträge. Deine Bewerbungen verliefen im Sand. Ich wollte „alles“, was meiner damaligen Vorstellung von „allem“ entsprach: geile Karriere, geile Beziehung. Und ich war bereit, zu investieren. Schenkte dir eine Postkarte auf der „Mehr Sonntage“ stand und nötigte dich, im Winter mit mir in die Sonne zu fliegen. In der Hoffnung, dort würden auch wir beide endlich mal wieder auftauen. Ohne den ganzen Arbeitsstress zwischen uns.
Die Ferienwohnung war scheiße. Die Terrasse war der Blick aus dem Fenster nach rechts auf den Balkon unserer Nachbarn, die behäbig in ihren Sonnenstühlen hingen und jeden Tag pünktlich um 18:00 anfingen, Brettspiele zu spielen und Dosenbier zu trinken.
Unser Doppelbett eigentlich zwei billige Einzelbetten aus Draht, die wir an den Beinen zusammenbinden, um einander näher zu sein. Näher, als wir es uns in den letzten Monaten waren. Stattdessen rutschen die Matratzen auseinander, als du mich hart von hinten fickst und meinen Oberkörper nach unten drückst, und ich schreie, erst vor Lust dann vor Schmerz, und sehe das Muster der Bodenfliesen durch den Lattenrost vor meinen Augen verschwimmen, und ich sage dir laut, du sollst aufhören. Und du machst einfach weiter.
Ich schlafe einfach erschöpft ein, als du fertig bist und finde am nächsten Tag einen Blutfleck in meinem Slip, den ich dir kommentarlos zeige. „Das wollte ich nicht“, sagst du, erschrocken und bist sehr nett zu mir und holst Frühstück.
Nett. Das ist wohl eines der ersten Wörter, das den Leuten zu dir einfällt. Nett zu kleinen Kindern, Tieren und dem Servicepersonal, schön so mit gebügeltem Hemd, grüßt auf der Straße und sagt Sätze wie „natürlich bin ich Feminist!“ Alle meine Freundinnen sind begeistert.
Dass du dir am nächsten Tag, als ich immer noch Schmerzen und irgendwie keine „Lust“ auf Sex habe, unkommentiert neben mir im Bett liegend einen runterholst. Beim Abendessen anfängst, mit dem Korkenzieher rumzuspielen und ihn auf einmal in meine rechte Brust piekst. „Wieso, das war doch nur Spaß“, meinst du, als ich komplett unverhältnismäßig deswegen ausraste. Überhaupt neige ich im Moment dazu, bei jeder solcher Kleinigkeit komplett auszuticken. Wie du mit dem einzigen Schlüssel für diese Wohnung losziehst um einzukaufen und erst Stunden später zurückkommst und ich auf 25 Quadratmetern eingesperrt bin und zusehe, wie die Nachbarn mit dem Brettspielen beginnen.
Mir von Heulkrämpfen geschüttelt ausmale was wäre, wenn das Haus jetzt zu brennen anfängt. Und was wäre, wenn ich jetzt einfach meine Sachen packe und abhaue, sobald die Türe wieder aufgeht.
Das tue ich natürlich nicht, ich will ja, dass es funktioniert zwischen uns. Du bist schließlich so nett und eigentlich ja auch der Mann, den ich mir immer erträumt habe. Nur manchmal eben ein bisschen ungeschickt. Aber das war ja keine Absicht. So etwas würdest du nie tun.
Dass dein ungeschickt-sein System hat, wird mir erst einige Monate später, nach unserer Trennung klar. Wie eine Narbe, die plötzlich wieder aufreißt und eitert. Ich bin erschrocken und erstaunt darüber, zu welchen Verschleierungstaktiken mein eigenes Unterbewusstsein in der Lage ist. Wie sehr ich mir alles zwischen uns schönreden musste, damit es funktionieren konnte, und vor allem, wie gut mir das gelungen ist.
Du bist wie eins dieser Suchbilder, auf denen man alles mögliche erkennen kann, je nachdem wie man blinzelt. Vase, Mädchen, Vase, Mädchen, Schwiegermuttertraum, gewalttätig, Schwiegermuttertraum, gewalttätig? Es ist schwer zu verstehen, dass jemand so sehr beides sein kann. Der mit den niedlichsten Geschenken, den lustigsten Wortwitzen und dem besten Frühstück im Bett. Und der, der mich im Streit vom Bordstein schubst, als ich High Heels trage. Das war doch keine Absicht. Wer würde denn so etwas mit Absicht tun?
Es passt genauso wenig in dein Weltbild wie in meines, als ich dich nach unserer Trennung damit konfrontiere. All die Grauzonen aufschreibe, die zwischen uns entstanden sind. “Du bist verrückt” ist deine einzige Reaktion und ich antworte: “Ich muss wirklich verrückt gewesen sein, mich auf dich einzulassen.” Ich rede nie wieder mit dir. Ich gehe weg von dir und schaue nie wieder zurück. Bis heute. Weil ich möchte, dass auch andere Menschen ihre Grauzonen hinterfragen. Auch wenn es weh tut. Mindestens zweimal.
Das deutsche Sexualstrafrecht weist gravierende Lücken auf: In Deutschland sind längst nicht alle Fälle, in denen sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person ausgeübt werden, strafbar. Ursächlich ist das deutsche Strafrecht, es setzt eine Nötigung z.B. mit Gewaltanwendung oder Drohung voraus. Konkret heißt das, dass es nicht ausreicht, wenn eine Frau ausdrücklich und mehrfach Nein sagt oder weint und fleht. Faktisch muss sie sich körperlich wehren, sonst liegt in den meisten Fällen keine Straftat vor. Alles andere: eine Grauzone – gegen die du hier unterzeichnen kannst.
UPDATE: Am 7. Juli 2016 hat der Bundestag eine Verschärfung des § 177 StGB beschlossen, nach der eine Tat auch dann als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung bestraft wird, wenn sich der Täter über den „erkennbaren Willen“ des Opfers – zum Beispiel durch ein klares „Nein“ bekundet – hinweggesetzt hat. Die Änderungen traten am 10. November 2016 in Kraft. Zuvor wurden Fälle nur geahndet, wenn der Täter das Opfer mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu sexuellen Handlungen genötigt hat, oder eine Situation ausgenutzt hat in der ihm das Opfer schutzlos ausgeliefert war. Weiterhin wurde ein neuer Tatbestand der sexuellen Belästigung geschaffen. (Wikipedia)
Wenn auch du Opfer sexualisierter Gewalt wurdest oder dir nicht ganz sicher bist, ob das, was dir da passiert, schon Gewalt oder Missbrauch ist: hol dir bitte professionelle Hilfe.
Die ganze Hintergrundgeschichte zu diesem Text steht übrigens in meinem autobiographischen Buch LVSTPRINZIP, das im Aufbau Verlag erschienen ist.
Headerphoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com
Julia
Ich frage mich manchmal, was es bringt, sich darüber klar zu werden, ob es wirklich schon Gewalt war oder nicht.
Von Menschen, die man liebt, erwartet man so etwas nicht und man verdrängt es vielleicht einfach so lange, bis die Psyche sich meldet und man einen ziemlichen zwischenmenschlichen Knacks davon trägt.
Wunderbar geschrieben, sodass es sich fast leicht liest, obwohl es an grausigen Narben in der Erinnerung kratzt.
Was so etwas mit Menschen machen kann, wie es einen verändert, merken andere fast nie. Man spricht ja auch nicht darüber. Und man selbst merkt es teilweise vielleicht sogar erst einige Jahre später, wenn man sich fragt, warum man eigentlich irgendwann so komisch geworden ist.
Ich wünsche Mia alles Gute. Und allen anderen auch.
Theresa
Danke für deinen wunderbaren Kommentar, liebste Julia! Dir wünsch ich auch nur das Allerbeste. Und allen anderen auch. Umarmung!
Jenny
Bewegender Text und danke dafür, dass dieser Platz auf Lvstprinzip gefunden hat.
Ich frage mich nur, ob man bei Gewalttätigkeit immer von körperlicher Gewalttätigkeit ausgehen muss…oder ob nicht auch psychische Gewalttätigkeit nicht ähnlich schlimm ist?!?
Letztlich haben beide Formen von Gewalt etwas mit Demütigung und Macht zu tun. Und sie zerstören das Selbstbewusstsein des Opfers und dessen eigene Achtung…ja, genau wie im Artikel beschrieben: jegliches Ausschalten aller Vernunft und beständiges Schönreden. Ich persönlich glaube ja ganz fest an dieses gern genannte Bauchgefühl. Und dieses sagt uns, wenn wir mal ganz ehrlich zu uns selbst sind, meistens ziemlich schnell beim kleinsten Anzeichen, dass etwas nicht stimmt oder es jemand nicht wirklich gut mit uns meint, Bescheid. Wir sollten in diesem Moment darauf hören und, auch wenn es schwer ist und man gegen seine Gefühle handeln muss, die richtigen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Leicht gesagt, schwer getan…
Victim Blaming oder die merkwürdige Intimität von Gewalt ⋆ Lvstprinzip
[…] die erst mal „selber schuld“ schreit, würde ich mich ehrlich gesagt auch hüten, über sexuelle Gewalterfahrungen unter meinem echten Namen zu schreiben. Bei keiner anderen Art von Verbrechen werden die Aussagen […]
Miriam
Liebe Theresa,
Danke für diesen Artikel, danke für dein Buch, danke für deine Ehrlichkeit.
Sie berührt mich, sie macht mich wach, macht mich wütend, macht mich stark. Ich will nicht länger wegsehen, nicht länger schweigen, mich nicht länger quälen, ihn nicht länger damit in Ruhe lassen. Ich habe meinem Exfreund geschrieben, 8 Jahre nach unserer Trennung. Ich will, dass er weiß, was er mir angetan hat, dass er mich vergewaltigt hat.
Danke für den Mut den du mir mit deiner Offenheit gemacht hast. Wir brauchen noch so viel mehr davon!
Theresa
Liebe Miriam,
es sind Nachrichten wie deine, die mir den Mut geben, so offen zu sein.
Ich wünsche dir alles erdenklich Gute, dass du das Geschehene – ob mit oder ohne Reaktion von deinem Exfreund – gut sortieren kannst und es dich nicht länger quält. Alles Liebe, deine Theresa