Kinsey und das Trauma der (B) anal ität des Menschen

Da machen wir uns jetzt einfach mal kollektiv nichts vor, bitte: Analsex findet jeder irgendwie spannend. Ja, auch du, liebster Leser! Woher ich das weiß? Na klar: Google ANAL ytics!

Einer der meistgesuchten Begriffe in diesem kleinen Suchfenster hier rechts. Gleich nach “Sex”, ihr Obersubtilos – ja, ich kann das alles sehen… Analsex ist also immer irgendwie interessant – und zwar anscheinend für wirklich fast alle: neulich hat mir mal ein Sextoy-Onlineshop-Vögelchen gezwitschert, dass die meisten Strap-Ons und Shared Toys nicht an (vermutlich lesbische) Frauen verkauft werden, sondern an (vermutlich heterosexuelle) Männer.

Das Thema Pegging (Frau penetriert Mann mit Strap-On) hat es inzwischen sogar in einen richtig guten Porno geschafft: die Xconfessions Vol 1: I pegged my Boyfriend von Erika Lust.

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Und trotzdem will es noch immer irgendwie keiner gewesen sein – Arschficktexte nur unter Pseudonym, alte Sexautorenregel. Und weil´s auch so fast nie jemand machen will, wirkt bei den Honorarverhandlungen natürlich zusätzlich auch gern noch die alte Prostituiertenregel: Anal kostet extra!

Als mir, nennen wir ihn einfach mal Rio Reiter, Mitte 20, irgendwas mit Kunst, rotzeverkatert beim Frühstück in Kreuzberg erklärt, worüber er gern mal auf Lvstprinzip schreiben würde, breche ich also folgerichtig erst mal komplett in Begeisterungsstürme aus:

Wie ist es so, als heterosexueller Typ auf passiven Analverkehr zu stehen? Das hab ich so noch in keinem deutschsprachigen Medium gelesen. Würde ich aber gern, ist nämlich, genau, total interessant. Eine Gruppe Zweitklässler spaziert an unserem Tisch vorbei und wir grinsen uns an. Denkst du, die Welt ist schon bereit für so was? fragt mich mein arschcooler Gastautor. Ist mir egal, antworte ich. Wir machen sie jetzt bereit.

 

Kinsey und das Trauma der (B)analität des Menschen

ein Gastartikel von Rio Reiter

Als ich Theresa vorgeschlagen hatte diesen Beitrag zu schreiben, dachte ich: „Eigentlich kein Ding, historischer Bezug auf die allseits bekannte Vorliebe der Griechen für Poliebe, der Rest ist selbsterklärend“ – weit gefehlt! Denn wenn nicht gerade zarte Knabenärsche im Mittelpunkt standen, waren die antik-liberalen Griechen doch überraschend homophob.

Aber um mal kurz zu klären worum es überhaupt geht, denn für heute geht es um vieles, nur nicht um das worum es eigentlich geht, denn während der Recherche hat sich das Thema doch sehr ausgeweitet, also kurzum; eigentlich ging es mir darum zu schreiben: „Hey, ich bin ein Mann, hetero, und feiere ebenfalls passiven Analsex!“ Zusätzlich wollte ich noch so ein bisschen erzählen was ich mir wie in welchem Alter wo eingeführt habe und sofort. Aber so einfach ist es dann doch irgendwie nicht.

Einerseits weil ich, seitdem ich auf Alfred Kinsey gestoßen bin, endlich mein Gefühl bestätigt bekommen habe, dass die Passage mit hetero irgendwie völliger Quatsch ist, andererseits weil ich zu all der lustvollen Information, was man sich wie einführen kann, auch von der nie endenwollenden Scham zu berichten habe. Und dass ich mich für eine Lust, die niemandem schadet so schäme, hat mich schon immer auch stutzig gemacht und um dieses Stutzen soll es heute erst mal gehen; warum folgte auf die Freude fast immer die Depression?

Ich habe die letzten Wochen versucht herauszufinden ob „heterosexueller“ passiver Analverkehr ein weitverbreitetes Phänomen ist, oder ob ich tatsächlich ein bisschen alleine damit stehe. Dabei habe ich zwei andere Phänomene entdeckt: erstens ist den meisten Männern in heterosexuellen Beziehungen, die auf passives Arschficken stehen, arschwichtig darauf hinzuweisen dass sie auch tatsächlich hetero sind, so wie es den meisten Frauen in heterosexuellen Beziehungen auf den Magen schlägt, dass ihre Männer eventuell homosexuell sein könnten – zweitens gilt fast für die gesamte Weltgeschichte der dummdreiste Beklopptizismus „nur der Arschgefickte ist schwul“.

Das erste ergibt sich aus dem zweiten denke ich. Aber um zu verstehen was das letztere überhaupt zu bedeuten hat, musste ich mich in einige Materie einlesen, denn so bekloppt dieser Satz auch ist, so sehr spiegelt er eine Angst, die ich auch über viele Jahre mit mir rumgeschleppt habe: die Angst davor, schwul zu sein.

Diese Angst kenne ich, obwohl ich schon immer mit Homosexuellen in meinem Umfeld zu tun hatte, daher auch ganz sicher weiss, dass die nicht anders sind als andere. Aber die Diskreditierung dieser Sexualität ist im Alltag eben doch so stark dass man sich zwar nicht dran stört, man es aber auch nicht sein will. Über Jahre habe ich mich immer wieder selbst anal befriedigt, das geschah in den meisten Fällen mit einem enormen Abstand zum vorhergegangenem Mal. Der Grund dafür war, dass ich mich im Nachhinein immer aufs Neue geschämt habe und Angst hatte, das könnte etwas an meiner Heterosexualität ändern, weswegen ich auch unglaublich viele Gedanken daran verschwendet habe wie ich mich davon abhalten könnte, es wieder zu tun.

Und das hat sich bis zu meinem Kennenlernen mit Theresa auch nicht wesentlich verändert. Erst im Rahmen dieses Blogeintrags bin ich auf die wichtigste Frage in Bezug auf diesen, inzwischen nicht mehr unwesentlichen, Teil meiner Sexualität gestoßen: Was ist eigentlich so schlimm daran schwul zu sein?

Und da sind wir wieder bei Kinsey. Dieser Mann müsste eigentlich von allen, denen ihre Eltern ab der Geschlechtsreife nicht mehr ins Schlafzimmer gefunkt haben, als eine Art Prophet, vielleicht sogar als Gott verehrt werden. Kinsey ist der Vater der modernen Sexualwissenschaft, im naturwissenschaftlichen wie auch im soziologischem Sinne, er hat nicht nur große Mühen auf sich genommen, Männern zu erklären dass Frauen eine Klitoris haben, er hat auch vermeintlich perverses Verhalten über statistische Erhebungen als banale Normalität entlarvt; Kinsey hat im Prinzip bewiesen dass die Diversität das bestimmende Element des Lebens ist, die Menschen machen da biologisch betrachtet keinen Unterschied, das Normale ist eine Illusion unserer Kulturen.

Aber was hat das mit der Angst vor dem Schwulsein zu tun? Das ist schnell gesagt und lang nachvollzogen. Ich kann nämlich ganz einfach konstatieren dass Schwulsein eben heisst anders zu sein als die Mehrheit, soweit ganz einfach, aber um wirklich nachvollziehen zu können was es heisst anders als die gesellschaftlich relevante Mehrheit zu sein, müsste ich erst mal ne Weile als offen Homosexueller leben, oder eben als Frau. Denn dass ist es was aller Welt zugänglich, im common sense auf Wikipedia, verbucht ist; der sich passiv verhaltende Mann, noch gesteigert im sexuellen Bereich, durchläuft eine so genannte Effemination, zu deutsch Verweiblichung, in der Sprache unserer antiken Knabenliebhaber Verweichlichung. Ist ja klar: Schwul = weich = Frau und eine Frau will nun wirklich niemand in dieser Welt sein, am wenigsten wir Männer, denn dann sind wir uns selbst ausgeliefert.

Um für dieses Mal ein Schlusswort zu finden; hätten wir Männer die letzten 8000 Jahre nicht unser mangelndes Kollektivselbstwertgefühl mit häuslicher Gewalt, Entmündigung und Vergewaltigung von Frauen kompensiert, würden wir heute alle viel mehr Freude und viel weniger Scham kennen.

 

Text: Rio Reiter

Bildcredit (c) Erika Lust /Xconfessions Vol 1: I pegged my Boyfriend

Theresa

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

6 Kommentare

  • Wenn ein Mann nicht passiv sein will, weil er sonst eine Frau wäre (was ja niemand will), aber auch keine passive Frau haben will… Sollen dann beide gleichberechtigt den aktiven Part übernehmen und sich gegenseitig ‘unterwerfen’ bis einer weint? Was ja dann hoffentlich nicht der Mann ist, der wär ja dann verweichlicht. Und die Frau ja dann auch nicht, die wär ja dann misshandelt.

    Ich bin ehrlich gesagt ein bisschen verwirrt. Kann aber auch an der späten Stunde und 800km auf der Autobahn heute liegen…

    Guts Nächtle,
    Julia

  • Antworten August 16, 2015

    Henning

    Hallo Hallo, liebe Theresa, hallo lieber Rio

    also deine ANALytics-Auswertung kann ich so (als “Pegging-Fachmann” und Anal-Sex Fan) nur absolut bestätigen! :D

    Also ich kann nur für mich reden, aber bei mir ist doch meistens die geistige Vorstellung von passivem Analsex deutlich erotischer als die tatsächliche Ausführung.

    Nuja… je nach Lust und Laune. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ein Finger im Po oder auch gern ein “übersichtlicher Dildo” mir keine Freude bereitet… und ich bin hetero, durch und durch!! ;)

    Aber wenn ich mir vorstelle, von einem Schwanz größeren Ausmaßes genagelt zu werden, so wie ich das dann mal als aktiver Part gerne tue… läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. ;)

    Ich hab so lachen müssen bei “nur der Arschgefickte ist schwul”! Wenn ich mit meinen Jungs bei nem Bier darüber rede, will es keiner gewesen sein… sind es dann dochmal mehr als 3,4,5 Bier rückt maximal EINER oder ZWEI in der Runde mit der Wahrheit raus. Aber mehr als ein Finger wird dann auch nicht zugegeben. Also soviel dazu..

    Ich für meinen Teil genieß eine gut gemachte Prostatamassage sehr; leider kann ICH das bei mir dann doch am besten. UND ich träum immer wieder mal davon, AKTIV nen Blowjob zu geben, aber das ist bisher leider nur Illusion und keine Realität. Aber wie setzt man sowas auch ohne große Schwierigkeiten um? Ich bin für jeden guten Tipp dankbar.

    Also kurz zusammengefasst: Ich bin ganz gern mal der passive Part und gebe mich meinem Gegenüber hin. Ist eine schöne und willkommende Abwechslung zu meiner dominanten Rolle im Job… dennoch behalte ich dieses kleine schmutzige Geheimnis soweit möglich ganz gern für mich.

    LG

    Henning von Strap on it

  • […] Art von Sex jetzt, oder wie suchst du da die Themen aus? Alles, was ich interessant finde und in Mainstreammedien so nicht unterbringe. Heißt ja Lvstprinzip und nicht […]

  • […] macht es mir gerade schon etwas schwer, neutral zu bleiben. Nachdem er sich in seinem ersten Text Kinsey und das Trauma der (B)Anal ität des Menschen mit der generellen Frage befasst hat, warum es für einen heterosexuellen Mann eventuell […]

  • […] Statistik, die wirklich entscheidende Frage ist doch: was können wir maximal Teilzeitbisexuellen, Kinsey-Mittelgrauen von der Queer Community lernen? Ich für meinen Teil kann hier nur mutmaßen. Auch […]

  • […] so tabuisiert wird, besteht eine gar nicht mal so kleine Chance, dass auch dein heterosexueller, männlicher Partner Interesse an Pegging hat und es nur noch nie gewagt hat, diesen Wunsch zu […]

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