Das Thema meiner Masterarbeit in Psychologie sollte mir etwas bedeuten – wenn ich so viel Energie in ein Projekt investiere, dann mit Herzblut. Also eine Studie über Sex. Warum sexuelle Erfahrungen, Stigmatisierung und Zufriedenheit? Ein Thema, das auf jeder Party von meinen Freunden als Gesprächs-Opener verwendet wird („Ratet mal, was für eine Studie sie gerade macht?!“) Und das ich in solchen Momenten schon mehr als einmal verflucht habe.
Denn natürlich erwartet dann niemand von mir, über die Häufigkeit sexualisierter Gewalttaten oder Theorien zur Aufrechterhaltung sexueller Doppelstandards informiert zu werden, nein, ich soll lieber einen Schnelldurchlauf durch die bunte Welt der Sexualpraktiken referieren oder Fragen à la „Was macht einen guten Liebhaber aus?“ Beantworten (Antwort: „Ähm, keine Ahnung, fragst du jetzt nach meiner persönlichen Meinung oder willst du eine passgenaue Bedienungsanleitung für attraktive Frauen zwischen 20 und 30?“).
Fast forward zu meinem Masterkolloquium: Ich leite voll gespielter Erhabenheit über die schmunzelnden Gesichter im Publikum meinen Vortrag ein und fühle mich wie eine der namenlosen Frauen, die Schilder mit „Ich brauche Feminismus, weil…“ in ihre Kameras halten. Nachdenklich, harmlos, still. Kein Zweifel, dass meine Psychologen-Community mich und mein Thema ernst nimmt – wenn ich aber schon hier so verdammt nervös werde und mir vorher zigmal überlege, ob ich trotzdem einen kurzen Rock anziehen kann, wie würde es mir wohl vor einer weniger wohlwollenden Gruppe oder gar online gehen? Wie erst den Frauen, die nicht unfassbar privilegiert und mit Bildung und Medizin versorgt leben, so wie ich es kann?
Mein eigener kultureller Dunstkreis ist besonders online so offen, so schambefreit und provokant; manchmal fast schmerzhaft zeigefreudig, wenn junge Frauen ihr Menstruationsblut auf einer Mission gegen die Tabuisierung weiblicher Körper dokumentieren. Fast zwanghaft oder aus Langeweile wird das noch unentdeckte Tabu gesucht, das letzte Einhorn der Erotik sozusagen. Dennoch, und das ist ziemlich schizophren, will kaum jemand der Protagonist der skandalösen Geschichte sein, über die andere plauschen. Nicht wenige lästern über Porno-Konsumenten und verstecken gleichzeitig ihre Fifty Shades Sammelbände, wenn Besuch kommt.
Man muss nicht jedes Geheimnis preisgeben, doch das Motiv des Versteckspiels ist wichtig. Meist lautet es: Scham. Und meist sind es nicht das sexualisierte Machtgefälle zu Ungunsten einer jungfräulichen Protagonistin und die romantisch verklärte Entdeckung einer Sexualität, die nicht ihre eigene ist (nachdem man ihr einen Hubschrauber geschenkt hat, oder wie war das?), sondern der Grundschulkind-Schreibstil, die platte Story oder geheime BDSM-Fantasien, die den Betroffenen peinlich erscheinen. Mr. Grey und seine Jungfrau entspringen einem Szenario, bei dem es zwar etwas heftiger zugeht als im Mainstream der salonfähigen Erotik-Medien, die aber letztlich die gleichen Rollenklischees verkörpern wie Titanic oder Rosamunde-Pilcher-Romane. Verglichen mit Kim Basinger in 9 ½ Wochen und dem originalen, cooleren Mr. Grey aus Secretary sind sie rückschrittlich, da die Grenzen zwischen gleichberechtigtem Alltag und (einvernehmlichen) Spielen verschwommener erscheint und dem weiblichen Part noch weniger Eigeninitiative, Aufgeklärtheit oder Einfluss auf die Geschichte zugestanden wird als in den erwähnten Filmbeispielen mit höherem Lebensalter.
Warum mögen so viele Menschen Varianten der Geschichte, in der die schöne, naiv-verklärte Maid vom lebenserfahrenen Eigenbrötler mit Kindheitstrauma in die Welt der Erotik eingeführt wird? Haben verstaubte Rollenbilder Besitz von verbreiteten sexuellen Fantasien ergriffen? Ist das Kopfkino in meinem Hirn zwischen der persönlichen Agenda gegen Sexismus und der evolutionspsychologisch bedingten Sehnsüchten meiner Gebärmutter hin- und hergerissen? Würde der Spagat, derlei Geschichten als erotische Fantasie zu konsumieren, ohne sie als Role Models für den Umgang mit Dating, Beziehungen und Sexualität im Tatsächlichen heranzuziehen, bliebe die Antwort auf solche Fragen wertfrei – so, wie sexuelle Präferenzen es sein sollten. Wie selten jedoch nach diesem Grundsatz gehandelt wird, lässt sich auch innerhalb scheinbar liberaler Gruppierungen feststellen.
Menschen aus der BDSM-Szene bezeichnen weniger härtere Gangarten als vanilla (was ja eigentlich implizieren soll, dass es jedem schmeckt) – nicht immer, aber häufig mit dem Anklang der Verklemmtheit oder zumindest Langeweile. In der queeren Community kann man manchmal Klassenkämpfe zwischen „echten“ Homosexuellen und denen, die nur experimentieren wollen, beobachten. Letzteren wird dann vorgeworfen, sie würden sich nur ausprobieren wollen, anstatt „wirklich“ drauf zu stehen. Als ob Ausprobieren bei Genitalien etwas Negatives wäre. Und unter den vielen Varianten nicht-monogamer Beziehungskonzepte gelten manche plötzlich als besser oder wertvoller, weil sie mehrere parallel laufende Partnerschaften haben und dabei für alle Zuneigung und Liebe verspüren, anstatt einfach eine offene Beziehung zu führen, in der es ja bloß um – ja, was denn? – bloß um Sex gehe.
Im Zentrum meiner Studie stand die Frage, was die persönliche sexuelle Zufriedenheit stärker beeinflusst – Erfahrungen oder Einstellungen. Ich vermutete außerdem, dass Diskrepanzen zwischen Wollen und Haben (oder Sollen und Wollen oder Haben und Sollten) die Zufriedenheit negativ beeinflussen. Zuerst dachte ich, dass die Unmöglichkeit der wahrheitsgemäßen Erfassung der tatsächlichen sexuellen Erfahrungen meiner Probanden ein Problem sei (wie häufig Menschen bei der Anzahl bisheriger Sexpartner oder bestimmten Praktiken schummeln, ist ja bekannt). Dazu kam, dass die Zusammensetzung meiner Stichprobe viel erzählfreudiger als der Gesellschaftsdurchschnitt (und damit nicht repräsentativ) sein dürfte, denn wenn man sich beim Aufruf zu einer Umfrage über persönliche sexuelle Vorlieben und Erfahrungen so etwas denkt wie „Toll, da mach ich mit!“, zählt man vermutlich zum offeneren Teil der Bevölkerung.
Entsprechend rechnete ich fest damit, ein wenig scham- und vorurteilsbehaftetes Meinungsbild zu erfassen, was ein Minuspunkt für die Aussagekraft meiner Studie wäre. Nachdem ich mich mit viel Enthusiasmus auf meine gesammelten Daten stürzte, stellte ich jedoch fest: Von den (übrigens zu fast dreivierteln weiblichen, you go girls!) Befragten hatten zwar viele einen Erfahrungsschatz, der dem Marquis de Sade ein seliges Lächeln ins Gesicht zaubern würde, darüber mit sich im Reinen schienen sie jedoch nicht zu sein. Viele berichteten von Schamgefühlen, Unsicherheit und Angst davor, stigmatisiert zu werden; ganz zu schweigen von zahlreichen Erlebnissen, bei denen sie Opfer von Slut-Shaming und verbalen oder physischen Übergriffen wurden. Die traurigste Frage dahinter lautet: Wenn sogar die selbstbestimmtesten Menschen in meiner Reichweite nicht frei von Reue und impliziten sexistischen Normen sind, wie düster muss es dann erst bei (sexuell) Konservativeren aussehen?
Es gibt viele Theorien dazu, woher dieser Berg voll Schuld und Schande kommt: Kulturelle Altlasten aus Zeiten, in denen geschwängerte Frauen ohne Ehemann noch ein soziales und darüber hinaus existenzielles Problem bekamen, prägen unsere Bewertung von unverbindlichem Sex, da er potentiell katastrophale Folgen haben könnte. Obwohl es unbeteiligten Dritten egal sein könnte, wenn jemand freiwillig mit unter der Brücke schlafenden und/oder genetisch benachteiligten Menschen Nachwuchs riskieren möchte, wird solches Verhalten mit Unvernunft, Leichtfertigkeit, mangelndem Selbstrespekt und Dummheit assoziiert. Casual Sex wird zwar (zumindest in unseren Breitengraden) nicht mehr mit dem totalen gesellschaftlichen Todesstoß, dafür aber eben mit Slut Shaming gestraft. Das tückische am modernen Sexismus ist, dass er viel sozialverträglicher und subtiler daherkommt als früher. Manchmal so versteckt, dass wir uns schwertun, ihn zu entlarven – und gleichzeitig überall befürchten, ihm aufzusitzen.
Sich von anderen abzugrenzen und anschließend mit einer Mischung aus Unverständnis, Abscheu und Pseudo-Mitleid auf sie herabzuschauen, kann auf verschiedenen und völlig willkürlichen Stufen erfolgen: Sex mit oder ohne Liebe, Casual Sex mit Freunden vs. mit Fremden, One Night Stands nur Zuhause vs. auf der Clubtoilette, Clubtoiletten-Sex mit Verhütung vs. ohne. Es wird gern nach hypothetischen Vergleichs Szenarien gesucht, auf deren Niveau man sich niemals herab begeben würden. Um das Ego zu stärken, weil jemand anders plötzlich unter uns steht. Und um uns selbst davon zu überzeugen, wir könnten unser Umfeld mitsamt der Reaktionen auf uns kontrollieren: Ich werde kein Opfer von Slut Shaming, solange ich mich an den Gute-Mädchen-Kodex halte. Ich werde mich nicht schämen müssen, wenn ich nichts anrüchiges tue. Ich werde nicht belästigt, wenn mein Rock lang genug ist. Kontrollillusionen, die uns vorspielen, man könnte die eigene Sicherheit durch die Einhaltung kulturell gemachter Normen erhöhen und dabei das Ausmaß der Schuldgefühle noch erhöhen, wenn die Rechnung nicht aufgeht. Wir wissen, dass es auch unter Missbrauchsopfern noch viel zu oft heißt: „Was habe ich falsch gemacht?“
Und so landete ich schließlich beim Thema sexualisierte Gewalt, wo ich mich doch eigentlich mit sexueller Zufriedenheit beschäftigen wollte. Es war frustrierend, wie groß diese Schatten noch immer sind und wie wenig man ihnen ausweichen kann – dennoch umso wichtiger, sich damit auseinander zu setzen. Auch wenn es bei sexualisierter Gewalt weniger um sexuelle Begierde als um einen, ich zitiere Herrn Bohner von der Uni Bielefeld, „Pseudosexuellen Akt zur Machtdemonstration“ geht, auch wenn die Sensibilität für sexuelle Stigmatisierung sich erhöht und sich immer mehr Menschen gegen Sexismus und Homophobie aussprechen, ist die Überwindung (besonders eigener) dysfunktionaler Ansichten schwerer, als man sich eingestehen möchte.
Eben immer, wenn man sich plötzlich fragt, ob die Freunde es promiskuitiv finden, dass man zu viele One Night Stands hatte. Oder prüde, weil es zu wenige sind. Wenn seriöse Sexshops ständig betonen (müssen), ihre Produkte in diskreter Verpackung zu liefern, und beim Tratschen über ausgefallene Praktiken Erheiterung und Ekel hochkommen. In der Pornographie spiegelt sich die Kehrseite verwaschener Sexualmoral wieder, in erotischen Fantasien verschwimmen beide schließlich ganz. Muss das so sein? Funktioniert sexuelle Fantasie ohne Tabubrüche, fehlen Kompromisse zwischen erlaubter Grenzüberschreitung und unumstößlichen Grenzen? Dass sprachliche und physische Sterilität mit erotischer Spannung wenig harmonieren, ist zumindest kein Geheimnis – vom Performance-Druck, den Versagensängsten und der Verunsicherung, die sie auslösen können, ganz zu schweigen. Dabei ist die Menge oder Vielseitigkeit sexueller Erfahrungen weniger entscheidend für das persönliche Wohlbefinden als die Offenheit, mit der jemand sich auf sie einlässt. Ein überdauerndes Konzept für guten Sex existiert nicht – weder für verschiedene Menschen, noch für einen einzelnen in verschiedenen Situationen, Beziehungskonstellationen oder Stimmungen. Hält man zu starr an etwas fest – egal ob Normen, Erfahrungen oder Idealvorstellungen – leidet die Fähigkeit, Neues zu erleben und sich darüber kennenzulernen. Sexuelle Selbstbestimmtheit hängt zudem mit sexueller Zufriedenheit, einem erhöhten Bewusstsein für die sexuellen Wünsche und Grenzen des Partners und der Bereitschaft zu Safer Sex zusammen.
Während ich diesen Text schreibe, fühle ich mich plötzlich sehr müde. Als hätte ich all das schon zig mal gelesen, ohne dass es auch nur irgendeinen Effekt auf mich oder mein Umfeld gehabt hätte – einen kurzer Aha-Moment vielleicht, sonst nichts. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt meiner unanständigen Forschungsprojekte wären: ich verfolge hier ein sehr privates Interesse.
Denn auch ich kenne die Furcht vor sexueller Stigmatisierung. Ich frage mich, wie viele meiner Mitmenschen mir insgeheim vorwerfen, ich würde mich mit meinen blondierten Haaren und meiner Vorliebe für Make-up einem männergemachten, sexistischen Schönheitsideal unterwerfen. Ich denke zurück an den Moment, als der Mann neben mir im Bett mich fragt, wie viele Dates ich gerade parallel hätte, und ich den Impuls verspüre mich zu rechtfertigen. Mir ist klar, dass ich die Antwort nicht geben müsste und dass ich mich für keine Zahl, egal ob eins oder zwanzig, schämen sollte. Später wird er mir erklären, dass er die Frage nur aus Unsicherheit und Angst vor dem Vergleich gestellt habe. Doch für einen kurzen Moment ist alles, was mir in den Sinn kommt, meine eigene Verunsicherung.
Ich ärgere mich, es ist die gleiche Spirale aus Scham, Wut, Scham und Wut auf mich selbst wie einige Monate zuvor, gleiches Szenario, anderer Mann, diesmal die obligatorische Frage nach der Anzahl meiner bisheriger Sexpartner stellend, die ich nach kurzer Pause mit „drei“ beantworte. Seine Antwort? „Das ist gut!“ Es tut mir leid, wenn ich daran zurückdenke. Weil ich nicht stark genug war, aus dem Dialog auszusteigen, weil ich ihm nicht erklärt habe, warum diese Antwort auf so vielen Ebenen respektlos ist, am meisten aber für die Frau, die dort lag und sein wollte und still wurde. Die gleiche Frau, die mit Plastikhandschellen in ihrer Autotür herumfährt und in extra kurzen Miniröcken zu spießigen Familienfeiern geht. Die gleiche, die als Letzte in der Klasse Interesse an Jungs hatte und heute noch schüchtern wird, wenn sie jemand küssen will. Die, die in Schockstarre verfällt und nichts sagen kann, wenn ein Mann mit lüsternem Blick im Zug ihr Knie anfasst. Die von ihrem polyamoren Hippie-Freund manchmal genauso genervt ist wie von Oma, wenn sie darauf hinweist, dass ich langsam einen Partner bräuchte (ich bin 23), vielleicht aus einem Wunsch nach Struktur, vielleicht weil die Unendlichkeit der Möglichkeiten uns einschüchtern kann, weil das alte Korsett so vertraut ist. Die gleiche Frau eben, die ihrem Betreuer bei der Fragebogenkonstruktion erklärt, was Pegging bedeutet. Was davon zählt?
Vielleicht hab ich mein Thema gerade deswegen ausgewählt – Konfrontationsübungen im Kopf. Und das ist die wichtigste Erkenntnis, die ich für mich gewinnen konnte: Wir sind viele; viele Einzelne und viele innerhalb der Einzelnen, und wir können uns streiten und Anstoß nehmen und reflektieren und mehr werden, bis wir ohne Kostüm nicht mehr nackt sind.
Text: Leonie
Titelfoto: Aaron Tsuru
Mona
Vielen Dank fürs Aussprechen was ich schon so häufig im Kopf hatte und habe.
Vor allem der letzt Absatz hat mich berührt.
Theresa
Wie schön, liebe Mona!