Tabulos? Ein Gespräch über die Scham mit Sexualtherapeutin Sandra Gathmann

Warum ich über Sex schreibe? Weil es einfach nie, nie, nie, nie langweilig wird. Auch nach fast neun Jahren mit diesem komischen Beruf gehe ich noch komplett mindblown aus Gesprächen nach Hause. So wie aus diesem, mit Sexual- und Paartherapeutin Sandra Gathmann, die uns heute die Lust an der Scham zurückgibt. A very long read. Enjoy!

Was ist ein Tabu überhaupt?

Ein Tabu ist ein Verbot. Und zwar ein kollektives Verbot, aus dem sich dann innere Verbote
ergeben können. Tabus sind nicht in Stein gemeißelt. Es gibt welche, die schon seit Urzeiten
bestehen und es gibt welche, die von Land zu Land, Kultur zu Kultur, Religion unterschiedlich
erlebt wird und die auch generations- und altersabhängig sind.

Es gibt Tabus, die Tradition haben und immer noch Sinn ergeben, zum Beispiel das Inzest-Tabu
und die Inzest-Schranke, also dass Menschen das Gefühl haben, da eine Grenze zu übertreten, und das ist auch gut so. Und dann gibt es natürlich auch Tabus, die Menschen eher behindern – zum Beispiel die Tabuisierung von bestimmten Menschengruppen, Sexualität im Alter oder unter
Kindern.

Also können Tabus auch eine Schutzfunktion haben?

Ja, absolut. Und das sieht man ja auch bei der Scham. Ein Tabu ist ja auch immer ein momentaner Endpunkt meiner Selbstentwicklung. Das heißt, ein Tabu oder auch die Scham, wenn ich dieses Tabu übertreten möchte, zeigt mir auf, dass ich scheinbar ein bestimmtes Wertebild und eine bestimmte Identität bereits entwickelt habe, wo ich jetzt an eine Grenze komme und sich die Frage stellt, der Prüfung: ist dieses Tabu für mich tatsächlich noch gültig oder erweitere ich meine Grenzen und mache neue Statuten für mich – und um welchen Preis.

Genau, dieser Preis: wie offen müssen wir denn sein? Und wer muss das akzeptieren?

Ich würde erst mal das Müssen mit Wollen ersetzen: wie offen WOLLEN wir sein?
Ohne Scham und Tabu gibt es auch keine Privatheit und keine Intimität. Das heißt, die Scham
schützt uns davor, uns zu veräußern, sie markiert die Grenze zwischen uns und anderen. Das Ganze ist aber auch ein ambivalentes Geschehen, das heißt wir verhandeln das mit uns mit diesem Erleben von Scham auch aus. Das drückt sich zum Beispiel auch aus mit dieser Körpergrenze beim Erröten. Wir hören oder lesen etwas, was uns beschämt und es treibt uns die Röte ins Gesicht. Was passiert dadurch? Unsere Identität, denn genau das ist das Gesicht, der Sitz der Identität, versucht etwas zu verschleiern, ich versuche sozusagen, im Erdboden zu versinken um in mich auch zu gehen und mich zu fragen, wie stehe ich denn jetzt dazu? Andererseits akzentuiert uns die Schamesröte ja auch, sie lenkt ja den Blick auf uns, und das ist ja auch genau das, was Menschen erleben und wofür Scham und Tabus stehen: diese Achse von sich-verbergen und sich-offenbaren. Also einerseits: sich offenbaren und zeigen und andererseits: sich verhüllen und verschleiern. Und wenn andere sich auf eine Art offenbaren, die unsere eigenen Grenzen und Tabus überschreiten, so ein „Das würde ICH NIE machen, das entspricht nicht meiner Ethik, meinen Wertebildern“, dann zeigt uns unsere Scham an, das ist unsere Grenze und die markiert dann wieder unsere Identität.

Und dann sagt man: schämst DU DICH denn nicht.

Richtig! Genau dieses Nachfragen „schämst du dich denn nicht“ heißt natürlich „ich schäme mich“
und gleichzeitig versucht man in dem Moment einzuordnen „sind meine Werte überhaupt tragbar,
vergleichen wir die mal“, heißt das.

Das kenn ich ja auch von meiner Arbeit, da sind ja auch immer alle so: „also dass DU da so offen bist“…

Und da zeigt sich ja eigentlich schon, dass diese Scham und die Tabus ja eigentlich etwas zutiefst Soziales ist. Weil es uns erstens einmal ermöglicht zu Überleben in sozialen Gruppen, es geht ja um den Vergleich, „weiche ich zuviel ab von den Normen und Gegebenheiten oder kann ich mich anpassen?“ und auch das führt ja zu Identität, weil ich wieder sehen kann, „aha, ich schäme mich, ich bin scheinbar anders als der andere. Hier beginne ich und hier hör ich auf und da beginnst du“.

Und hast du das Gefühl, dass das was man immer so liest, von wegen „die enttabuisierte Gesellschaft“ – ist wirklich so?

Ich erlebe das Verwirrende für ganz viele Menschen in dieser Zeit in dieser ganz starken
Widersprüchlichkeit. In dem Spannungsfeld zwischen einer Enttabuisierung, übrigens auch von
Scham selbst. Es werden immer mehr Bühnen geschaffen, die Beschämendes zeigen und die Lust am Zuschauen. Das zeigt ja auch schon: Scham macht auch Lust und Beschämendes macht auch Lust, die diese Bühnen zur Verfügung stellen, und auch die Auseinandersetzung mit „wie würde es mir an dieser Stelle gehen?“ und „gut dass ich nicht an dieser Stelle bin“. Da gehört auch dieser
ganze Bereich der Post Privacy in den neuen Medien dazu. Also diese ganze öffentliche
Zurschaustellung auch von Weinen, von Dingen die gar nicht mit Sexualität zu tun haben.
Grundsätzlich einfach auch von Gefühlen, die in bestimmten Kulturen ja immer noch wahnsinnig
schambesetzt sind. Es gibt ja richtige Schamkulturen, zum Beispiel im asiatischen Raum. Für die Samuraikrieger war die einzige Konsequenz von Gesichtsverlust ja quasi Selbstmord. Wenn man
das Gesicht verloren hat, verliert man seine Würde so massiv, dass man keine Lebensberechtigung mehr hat. Wir in den westlichen Gesellschaften sind eher eine Schuldkultur. Also zum Beispiel in den USA, da geht es eher um Schuld und Sühne und nicht so sehr um Scham.

Und die kann man dann beichten und dann geht’s einem besser?

Ganz genau. Aber das ist die eine Seite, also dieser Voyeurismus, also dieses Exhibitionieren von Lust, von Scham, von Demütigung und Tabus, die so zersplittert werden dass sie auch normalisiert werden, das haben wir ja im BDSM-Bereich ganz gut erlebt, und auf der anderen Seite kommt die Gegenbewegung. Denn Menschen spüren ja, dass zum einen das andere gehört, und wenn das eine zu präsent ist, gibt’s auch eine Sehnsucht nach dem Anderen, nämlich nach Privatheit, Verschlossenheit, Dinge ent-öffentlichen, intimisieren und soweiter. Und das hängt meiner Meinung nach interessanterweise ausgerechnet mit diesem Trend der Selbstoptimierung zusammen.

Mit der Optimierung kommt die Wachsamkeit, bin ich noch so angepasst, wie es den jetzigen
Normen entspricht, die sich ja immer schneller ändern – bin ich so schlank, so fit, so sexuell offen, wie es die Gesellschaft scheinbar von mir erwartet? Bin ich so offen wie die Leute in den Talkshows, die scheinbar alles zur Verfügung stellen, oder nicht, und wenn ich davon abweiche, dann entsteht ein negatives Selbstbild, dass ich scheinbar verändern muss und anpassen – oder mich eben dagegenstellen und sagen: nein, ich bin anders.

Und dann auch wieder #bodypositivity und diese ganzen Trends mit „ich bin gut so wie ich bin und ich zeige das, auch wenn ́s nicht perfekt ist.“

Ja, wobei, man darf sich nicht täuschen lassen, diese Bodypositivity kann natürlich auch zu einer Form von Tabu werden. Nur weil etwas positiv klingt, und zwar positiv für unsere jetzigen aktuellen Wertebilder, heißt das nicht, dass es nicht auch einen Pferdefuß hat. Zum Beispiel kann ich mich, wenn ich jetzt in einer Gruppe von Frauen bin, die ein sehr positives Selbstbild hat, so richtig postfeministisch-queerdenkend, mich auch gleich schämen dafür, dass ich mich schäme. Scham darüber, dass ich nicht so positiv aufgestellt bin, dass ich Teile meines Körpers nicht leiden kann, dass ich mich selbst unzulänglich fühle. Und dann wird der Vergleich mit dieser scheinbar positiven, strahlenden Gruppe dazu fühlen, dass ich mich wieder unzulänglich fühle und mich selbst bewerte.

Und dann entwickle ich eine Sekundäremotion, dass ich mich scheiße fühle, weil ich mich scheiße fühle, und dann deswegen scheiße fühle.

Man sagt ja auch über die Scham, dass sie eine der interaktivsten Emotionen überhaupt ist. Das heißt, sie kommt selten allein. Also erstens ist sie ansteckend, je mehr Leute sich für eine Sache schämen, umso mehr neige ich auch dazu, mich zu schämen, aber sie interagiert auch mit anderen Gefühlen, das heißt, wir schämen uns, und relativ rasch kommen andere Gefühle auch noch hintennach dazu. Selbstentwertung, Traurigkeit, Wut, Rachegelüste „wieso schäm ich mich eigentlich?“ also sehr viele Dinge die so als Rattenschwanz hinterherkommen. Scham ist auch eines der intensivsten Gefühle, es wird kaum ein Beispiel aus Film und Literatur so sehr Leserinnen und Konsumentinnen in den Bann ziehen können wie die Scham oder Tabus. Deswegen wird es auch so oft genutzt. Mit Scham identifizieren wir uns besonders rasch, weil es ja auch etwas ist, was evolutionspsychologisch unser Überleben sichert, deswegen achten wir da besonders drauf und fragen uns „wie würde es mir da gehen“?

Und wie trägt das evolutionsbiologisch zum Überleben bei?

Scham ist ein sehr früh entwickeltes Gefühl. Kinder entwickeln das vor der Schuld, so zwischen
anderthalb und zwei Jahren, da lernen sie sich schämen. Dann erst nachher kommt die Schuld. Wir sehen das sehr gut bei Menschen die beispielsweise Schäden im Orbitofrontalkortex haben, oder auch bei Soziopathen, die haben kein Schamempfinden, was dazu führt, dass sie sich Gesellschaften empathisch auch nicht anpassen können, Grenzen anderer nicht achten können, weil diese Empathie fehlt. Die Scham ist eben eigentlich auch ein Torwächter, damit ich meine eigenen Grenzen nicht überschreite aber auch die Grenzen anderer achte. Ein Beispiel: ich sehe in der Wohnung das Tagebuch meines Partners. Ich beobachte mich also quasi selbst dabei, wie ich voller Neugier zum Tagebuch greife und die Scham reguliert mich und sagt: das darf ich aber nicht, das ist privat. Wenn ich es dann lese, kommt die Schuld. Aber die ist die Konsequenz. Das heißt, die Schuld steht immer für die Handlung, ich verurteile das was ich tu, die Scham steht für das Selbst, wie konnte ICH das tun? Und das zeigt wie wichtig das für unser Selbst-Bewusstsein ist.

Dann hängt das ja auch stark mit der Empathie zusammen, weil ich ja immer auch schauen muss, wofür schämt sich der andere und wie übertrete ich seine Grenze nicht?

Ganz genau. Und es lässt uns auch in Augen von anderen Menschen anders dastehen. Es gibt ja inzwischen viele sozialpsychologische Experimente wo gezeigt worden ist, wie andere darauf
reagieren, wenn Menschen sich für einen Fehltritt schämen oder eben nicht schämen. Zum Beispiel ein Mann im Supermarkt wirft eine Dosenpyramide um. Im einen Fall zeigt er danach Scham, im anderen Fall ist er relativ unbeeindruckt und geht einfach weg. Im ersten Fall sympathisieren Menschen extrem mit ihm, helfen ihm sogar und schätzen ihn als vertrauenswürdiger ein, im anderen Fall werden diese Personen oft als arrogant und nicht vertrauenswürdig abgewertet. Also es entsteht auch ein anderes Persönlichkeitsbild von jemandem, und das sichert auch Überleben in einer Gruppe.

Es geht ja immer auch ums Gesehen-Werden. Da hat jemand eine Vorliebe, die ein Tabu ist, das irgendwie nicht so akzeptiert wird und dann fühlt sich die Person eben nicht so gesehen. Was kann man denn so einem Menschen mitgeben? Soll der dann sagen, okay, dann rede ich da halt nicht mehr drüber, oder suche ich mir dann neue Freunde, wie geht man mit so etwas um?

Das ist schwierig das so pauschal zu sagen, weil es ja bei sexuellen Fantasien, Lüsten und Praktiken auch um Sehnsuchtsmotive geht. Und diese Sehnsuchtsmotive sind ja oft sehr ambivalent. Zum Beispiel haben Menschen, die sich leicht schämen oft auch gerade ein ganz besonderes Bedürfnis, gesehen und bewundert zu werden. Und sexuelle Fantasien oder Szenarien gehen oft in die Richtung, dass sie etwas reinszenieren was mal unangenehm war um es dann mittels Sexualisierung zu überwinden. Das heißt, die Frage ist, will man das überhaupt offenbaren oder für sich als einen Schatz hüten? Was bringt das Offenbaren, was erwartet oder verspricht man sich davon? Manche Menschen nutzen das Offenbaren oder das Publikum-suchen auch gerade dafür, Scham zu erleben. Wir tun hier so, als wäre das Offenbaren und danach Schämen weil die anderen das nicht so empfinden, immer negativ. Aber Scham ist ja auch mit Angst verbunden, das merken wir zum Beispiel bei Kindern, die so Lustangstspiele machen, wo es oft um so beschämendes geht und ums Grenzen ausloten. Scham und Angst aktivieren uns beide und sind auch mit Erregung verbunden.

Erregung braucht immer ein gewisses Maß an Scham und Angst, weil sonst wäre die Kurve ganz flach. Und manche Menschen nutzen das sogar in Extremen. Durch Demütigung, Szenarien wo sie beschämt werden, durch Verbalerotik wo sie beschämendes hören oder selbst sagen, oder im  onfrontieren von anderen, die sie eben beschämen um zu schauen, wie reagieren die drauf oder auch vielleicht, weil sie einen bewussten oder unbewussten Lustgewinn daraus haben, dass andere sagen, wäh, also das ist ja allerhand, das würd ich NIE tun.

Es kann einem also auch gefallen, bei anderen Schamgrenzen und Tabus auszuloten.

Natürlich, das ist was ungeheuer identitätsstiftendes. Es kann einen vernichten und Identität stiften und alles dazwischen. Ich denke aber schon, dass manche Menschen auch damit spielen, das sie andere vor den Kopf stoßen, sie scheinbar beschämt sind, es aber irgendwie schon auch genießen. Dass sie sich dadurch von anderen abgrenzen können.

Mich erstaunt oft, wie unglaublich einfach das ist, in meiner Arbeit erlebe ich das ja fast täglich.

Ich denke, ein schlechter Rat wäre immer zu sagen, „Schäm dich doch nicht! Das ist doch alles ganz normal, lass es raus!“ – Das ist weder hilfreich noch identitätsstiftend noch beantwortet es die sehr spannende Frage, „wozu ist diese Scham da?“ – das ist überhaupt etwas, das ich bemerke, da gibt es Scham auf der einen Seite der Achse, und auf der anderen Seite den Stolz.

Stolz ist dort wo uns was gelingt, wo wir kompetent sind, und in der Scham erleben wir eine Niederlage. Ich würde es überhaupt nicht so sehen! Ich sehe es so, dass Scham an sich schon eine große Kompetenz ist. Sie zeigt uns: ich habe scheinbar ein besonders sensibles Wahrnehmen für meine eigenen Grenzen und die Grenzen anderer, ich habe scheinbar Werte gebildet und diese auch erarbeitet, und jetzt spüre ich die Grenze und kann mir überlegen, bleibe ich in dieser Komfortzone mit diesen Werten die ich schützen möchte, oder weitere und lockere ich diesen Schutz zugunsten eines größeren Spielraums aus? Und das ist auch gerade für die Sexualität eine unglaublich existenzielle Frage. „Weg mit der Scham“ heißt „Tor auf für die Langeweile.“

Wenn es nichts mehr zu tabuisieren gibt, gibt es ja auch nichts mehr zu enttabuisieren.

Richtig, und das ist die Frage: will ich wirklich alles enttabuisieren und mich nicht mehr schämen
müssen, weil dadurch auch auch viel Reiz, Intimität und Privatheit verloren geht? Wenn wir ans
viktorianische Zeitalter denken, was es da alles für Gründe zum sich-schämen gab.

Wie viele Dinge da sexualisiert waren,  Stuhl- und Tischbeine, die verhüllt werden mussten, damit es nicht an Frauenbeine erinnert, da haben wir natürlich gleichzeitig unendliche Möglichkeiten des Sexualisierens, des Erregens und des Sich-Schämens. Gleichzeitig begeben sich Menschen momentan auf die Suche, wo gibt es noch was, wo ich mich intensiv erleben kann – wo ich mich vielleicht auch noch schämen kann – und das erlebe ich schon sehr stark, dass viele Menschen heute sehr auf der Suche sind nach immer intensiveren Reizen, intensiveren sexuellen Spielarten und Kicks. Und die taugen dann alle letztlich nichts, weil es ihnen wieder weggenommen wird, es wieder enttabuisiert wird und sie sagen, „was ist es denn noch?“

Und, was ist es noch?

Also die größte Tabu-Trias die uns heute im Bereich Sexualität noch bleibt ist: Sex mit Kindern, Sex mit Tieren, Sex mit Leichen. Sex muss einvernehmlich sein, das ist das letzte Tabu, so massiv gegen die Einvernehmlichkeit zu verstoßen. Aber das sind Dinge, die sehr entrückt sind und so massiv gegen diese Idee der Konsensmoral verstoßen. Sex mit unbelebten Gegenständen ist schon lange enttabuisiert, von Sextoys bis Objektophilie, alles andere ist irgendwie für Menschen – jetzt nicht im klinischen Kontext sondern in der breiten Öffentlichkeit – relativierbar, da hat man irgendwie eine Talkshow oder einen Youtubeclip dazu gesehen, da hat die Nachbarin schon davon erzählt.

Ja und das Gefühl habe ich auch. Und da kommen wir dann schon wieder in dieses BDSM- Thema von „safe, sane and consensual“, das alles geht, solang es beide wollen. Mir hat auch jemand geschrieben, er steht darauf, Menschen gegen ihren Willen zum Orgasmus zu bringen. Da habe ich gefragt, also wie jetzt, und daraufhin ein irrsinnig kompliziertes Szenario bekommen, unter welchen Prämissen das also stattfinden kann.

Consent wird ja im Zuge der #metoo-Debatte gerade selbst zu einem Fetisch, dass sich alle auf einmal so intensiv damit auseinandersetzen – was ist das eigentlich, wie muss der gegeben werdenDas ist ja auch ein großartiges Beispiel für alles bisher gesagte, diese Lust, Leuten einen Orgasmus zu machen, die eigentlich keinen haben wollen. Da steckt drin das Verhandeln über innere und äußere Grenzen, da steckt drinnen, dass Scham und Lust und Erregung nah beieinander liegen, da steckt drin, dass es auch etwas mit Macht und Ohnmacht zu tun hat, und dass das letzte Tabu diese Konsensmoral ist. Ich hab ́s so erlebt, dass gerade in dieser BDSM Community, in der ja auch viele Diskurse waren, ob dieses „Safe, sane and consensual“ nicht auch verändert werden muss, weil es so ja dann eigentlich nicht mehr das ist, wofür es eigentlich steht, nämlich mit dem Spielen von Grenzen und wenn die Grenzen so klar zementiert sind, ist die Frage sind das überhaupt noch welche?

Das heißt auch hier wird einem schon wieder eigentlich das weggenommen, weswegen man es ursprünglich gut fand.

Es gibt ja zum Beispiel auch in der BDSM Community Menschen, die diese Konsensmoral so
hochhalten, dass sie die ausgeklügeltsten Verträge vorher schließen und dann auch während der Szenarien so in Verhandlungen stehen, dass sich ja dann auch erst mal die Frage stellt, wer ist denn hier eigentlich überhaupt noch Dom und wer ist Sub? Wenn der submissive Teil dann ständig sagt, also hier bitte schon und da weniger und so überhaupt nicht, führt es auch dieses Spiel mit Grenzen ad absurdum.

Aber wir sind uns einig, dass es gut ist, Grenzen zu haben und auch, an denen immer mal wieder zu rütteln?

Nicht einmal das würd ́ ich pauschal sagen! Es gibt auch Menschen die einverstanden sind mit
einem recht eingeschränkten Spielfeld. Je enger der Raum, desto eher bin ich auch gestützt.
Menschen die nicht so flexibel sind, warum auch immer, oder man kann positiv sagen, die sehr
geerdet sind in ihrer Position, für die ist das vielleicht nicht so reizvoll. Aber ich glaub auch dass
das eine hypothetische Frage ist, weil wir Menschen können wir uns auch nicht nicht verändern,
und da wird es anstrengender sein, so zu bleiben wie wir sind, weil wir verändern uns ja sowieso.

Und dagegen sollte man auch nicht ankämpfen, oder?

Na ja, soll. So ein Kampf mit sich selber ist immer so eine etwas unangenehme Angelegenheit. Es ist etwas, was mal ganz platt gesagt Potenziale ermöglicht, die wir nehmen können oder auch nicht. Die uns aufzeigen, hier ist ein Buffet, es gibt auch andere Speisen als die bisher gewählte, willst du mal kosten oder auch nicht, fürchtest du dich zu sehr oder willst du einfach gern bei deiner Lieblingsspeise bleiben?

Und wenn ich jetzt ein Tabu habe, wie beispielsweise dieses „ich steh auf dicke Leute“, das ja gegen keine dieser Konsensmoralen verstößt und trotzdem etwas ist, was ja sehr häufig auftritt, dass gerade Männer sagen, „ja eigentlich mag ich das schon, wenn da mehr dran ist, aber mit der trau ich mich dann nicht raus, was sollen denn meine Freunde sagen“. ie soll man denn mit so was umgehen, wenn man zum Beispiel für seine Vorliebe auf der Straße ausgelacht wird?

Ich glaub da gibt es auch nicht wirklich ein Patentrezept. Am spannendsten an der Geschichte mit den übergewichtigen Menschen finde ich ja, mehr Gewicht zu haben, als einer Norm im Sinne von Gesundheit oder Schönheit entspricht, ja auch eine Entgrenzung ist, in sich. Das heißt, eigentlich ein Liebäugeln mit einer Person, die ihre Grenzen erweitert – ihre Körpergrenzen, nämlich. Das ist ja zum Beispiel auch beim Feeding so ein Andocken an dieses „wie ist es, entgrenzt zu sein“. Der Umgang damit? Na ja, da sind wir wieder bei dem Punkt, die Verhandlungen zwischen Realselbst und Idealselbst – je nachdem was schwerer wiegt.

Wenn das Idealselbst sagt, mein größter Wert auf dieser Welt ist es, dass andere mich mögen, dann wird das sehr schwer sein, eine Vorliebe die gesellschaftlich nicht akzeptiert ist, herauszutragen, da verstoße ich ja gegen diese Gewinnerstrategie.

Da jetzt zu sagen „ach stell dich doch nicht so an“ ist für das Selbstempfinden keine gute Idee. Die Strategie ist ja „andere sollen mich mögen, hochhalten, schätzen, respektieren“ – dann muss ich es geheim halten. Wenn die Strategie jetzt ist, und da merke ich, das ist auch eine Frage von „wie will ich mich entwickeln“, und ich mir denke, ich möchte eigentlich zu dem Punkt kommen wo ich Stolz entwickle dafür was ich bin und wie ich tu und wie ich sexuell bin, dann wird’s in die Konfrontation mit dem Außen gehen und zu einem „zu sich stehen trotz Scham“.

Und wie macht man das?

Ich glaube, erstens geht’s um die Wahrnehmung und den Respekt und das Bedanken dieser Grenze. Also das wofür Scham und Tabus gut sind. Ich kann Teile von mir nie loswerden indem ich sage „schleichts euch, geht’s weg!“ Das ist so wie bei Kindern, die wollen dann noch mehr Aufmerksamkeit – obwohl, das ist ja auch bei Erwachsenen so. Das heißt, zuerst geht’s darum, sich mit diesen Teilen auseinandersetzen und sich zu bedanken, zu schauen.

Etwas, was ich zum Beispiel manchmal Klienten in Therapien als Aufgabe stelle ist, die Gefühle die sie nicht leiden können, in diesem Fall Scham, einen Brief schreiben zu lassen. Also sie führen den Stift und die Scham schreibt ihnen. Wie sie sich behandelt fühlt. Welchen Job sie im Verein dieser Person hat. Ob sie sich vernachlässigt fühlt, nicht respektiert, was ihre Aufgabe ist, wofür sie glaubt, dass sie gut ist. Und meistens wenn man den Stift führt für dieses Gefühl sagen diese Gefühle total präzise total gescheite kluge Sachen. Und möglicherweise wird diese Scham in diesem Brief auch schreiben, was sie sich wünscht, wo sie verhandlungsbereit ist, wo sie sich noch überhaupt nicht geschätzt fühlt, und mit diesen Infos kann ich jetzt als Chef von dem ganzen Verein, wo die Scham eine Mitarbeiterin ist, überlegen wie tu ich jetzt, wie besetz ich die Scham so, dass sie alles gute, was sie für mich inne hat, erledigen kann, und dort wo sie mir wirklich im Weg steht, in ein ernstes Mitarbeitergespräch gehen und ihr sagen: liebe Scham, ich höre dich, ich weiß dich in vielen Punkten auch zu schätzen, du erledigst viel für mich und machst einen guten Job, aber jetzt hast du mal Pause. Jetzt brauch ich einen anderen Mitarbeiter und heute hast du mal einen freien Tag, ich komm auf dich zurück. Mit diesem Zwiegespräch ist es für viele Leute leichter, damit umzugehen.

Aber das ist ja auch nichts punktuelles, das ist ja was lebenslanges, dieses Auseinandersetzen und Verhandeln von Grenzen. Alte Menschen schämen sich ja auch wegen anderen Dingen als Kinder oder Jugendliche, Jugend ist ja überhaupt die große Zeit der Scham, weil es entwicklungspsychologisch so ist, dass ich mich an Peers orientieren soll und dabei abchecken soll, bin ich noch in der Norm. Von Jugendlichen kommt dieses „bin ich normal“ schon besonders häufig und das zeigt auch, dass das eine wichtige Entwicklungsaufgabe ist, dieser Vergleich.

Also ich höre dieses „bin ich normal“ natürlich ständig, vor allem von Erwachsenen. Und ich bin ja mittlerweile in so einer Art Influencer-Rolle und finde diese Entwicklung ehrlich gesagt erschreckend, wie sehr sich die Leute dann teilweise auf mich stürzen, um das so für sich wieder einzuordnen. Und ich glaube, das geht nicht nur mir so. Sobald man mit so einer gewissen Reichweite im Internet vertreten ist, wird man da denke ich sehr schnell benutzt um die eigenen Normen abzustecken und ach so, so ist das für die. Ich habe schon das Gefühl, dass die Sehnsucht nach so einem „so wird’s gemacht“- Malen nach Zahlen extrem wächst im Moment.

Ja, das sehen wir ja auch in der Politik. Es ist so eine Sehnsucht, je facettenreicher alles wird.
Übrigens, auch das zeigt uns die Scham: wir sind facettenreich, und da kommt jetzt ein Gefühl hoch was wir davor gar nicht so kannten. Wir sind heute so viel damit konfrontiert, mit der Aufweichung aller Geschlechterrollen und Identitäten, gibt’s so eine Sehnsucht nach Schwarz oder Weiß, so oder so. Mann oder Frau. Hetero oder Homo. Ich kann mir das durchaus vorstellen, dass da ganz viele Leute auf dich zukommen und dann sagen: na aber wie isses denn jetzt eigentlich, jetzt sorg doch mal für Ordnung! Das gibt dir ja auch eine Machtposition, die sehr verlockend ist.

Und alle wollen immer genau den einen Tip, der dann wirklich hilft, aber den gibt es ja überhaupt nie.

Ich verstehe dieses Bedürfnis total, aber ich denk mir, so abstrakt ist das Ganze ja auch wieder nicht. Erstens mal tun wir ja so, als wäre Scham etwas wirklich wählbares. Dabei ist Scham uns teilweise angeboren. Es hat sie immer schon gegeben und sie ist universell auf dem Globus verstreut. Und, und das ist vielleicht das wichtigste: dass Scham uns erst zum Menschen macht. Weil das ist eine Emotion, die wir nicht mit Tieren teilen. Das ist DAS Gefühl, das uns Menschen differenziert. Das heißt, sie uns wegzunehmen würde uns irgendwie auch entmenschlichen. Und wir haben ja auch darüber gesprochen, wie viel positives diese Schamgefühle haben.

Es gibt auch natürlich die andere Seite und das ist ja auch ein konkreter Hinweis: Es gibt ein Übermaß an Schamgefühl. Das muss man ja schon auch sagen. Das heißt, wenn ich an mir merke, dass nicht ich mit der Scham in Verhandlung treten kann, also immer wieder überlegen kann, was tut die Gutes für mich, wo nützt sie mir, wo behindert sie mich, sondern die Scham mich hat und bestimmt über mein Leben, zum Beispiel dass ich mich so schäme, dass ich mich zurückziehe und isoliere, Angststörungen entwickle, depressiv werde, Zwänge, Sucht. Dann ist das ein wunderbarer Kompass und Hinweis darauf, dass die Scham zu viel Raum und zuviel Bühne hat und dann wäre ein Punkt, an dem ich ein im besten Fall geschultes therapeutisches Außen brauche, das mit mir diese Scham gemeinsam neu verhandelt und sich genauer anschaut. Und das spüren Menschen meistens auch sehr klar, wann die Scham sie hat und wann sie sich schämen.

Das heißt, wir sollten mit dieser Scham in Kontakt zu treten.

Genau! Sie als eine Mitarbeiterin von vielen zu verstehen und wo man aber letztlich auch als Chefin mit dieser Scham spielen kann und mit ihr verhandeln kann, sie manchmal auch ertragen muss, man kann das ja nicht immer kontrollieren, aber eben auch einen Blick drauf haben, wo nimmt sie so viel Raum ein, dass man sie in ihre Schranken weisen muss.

Und was ist mit anderen Leuten, kann ich deren Scham dann auch in die Schranken weisen? Zum Beispiel wenn ich auf einmal auf Frauen stehe und meine beste Freundin das aber zum Kotzen findet? Kann ich sie dann in ihrer Scham beschämen? Ihr dann sagen, das ist ja das Letzte, dass du so spießig bist – wie oder wie könnte dann ein Dialog ausschauen, der etwas bringt?

Kommt drauf an, was ich beabsichtige. Wenn ich zurückschießen will, dann schieße ich das gleiche Gefühl zurück, nämlich von der moralischen Position – wie KANNST du nur! – und ich sage: wie kannst DU nur – dann bin ich im eskalativen Modus drin: Wer kann den anderen mehr beschämen? Ich kann auch in der Kind-Position bleiben und es einfach aushalten und mich schämen. Ich kann in der jugendlichen Position sagen, ist mir egal, ich mach was ich will! Und ich kann in der Erwachsenenposition sagen: „Aha! Da empfinden wir also anders. Für mich ist das SO. Und da steh ich dahinter.

Also so ein „agree to disagree“.

Ja, und es ist auch noch mehr, also in sich zu ruhen und sich nicht so leicht herausschleudern zu lassen aus diesem „ich steh da gut und bequem auf zwei Beinen da und sag aus meinem Bauch heraus, „na so isses für mich“, und zwar selbst auf die Gefahr heraus, dass du anderer Meinung bist, steh ich dazu und zu mir selbst.

Und damit mache ich auch was Intimes auf, nämlich trau ich der anderen Person auch zu, dass sie das aushält. Ich kann ja auch sagen, ich verberge das vor der anderen Person und die wird sich sicherlich furchtbar schämen dann, damit mach ich sie aber klein. Man kann auch sagen, „Du bist erwachsen, ich trau dir das zu – wenn du dich dafür schämst ist es nicht von mir beabsichtigt, deswegen trifft mich keine Schuld. Du wirst jetzt damit umgehen, wenn du ́s tust, und ich werde damit umgehen, deine Reaktion zu sehen.

Und sollte man das so auch mit dem Partner machen, dieses sich-zumuten?

Ich glaube, das ist generell eine der schwierigsten Aufgaben, die wir so haben. Je näher uns die Person steht, je mehr wir die lieben, je mehr es um Dinge geht, die unser Selbst betreffen, haben wir Angst, dass die Reaktion kommt: „SO bist du? Na dann ist es aber aus mit uns!“ Und das ist ja eine furchtbare Vorstellung. Das heißt, wir sind alle dazu geneigt, uns irgendwie anzupassen – natürlich auch durch die Scham. Und so können wir uns irgendwie so zusammenfalten, dass es dem anderen irgendwie in den Kram passt, aber das hat natürlich auch seinen Preis, und zwar den, dass wir nicht mehr intim sein können. Und nicht mehr in Beziehung, sondern verschmelzen zu so einem Wir, das kein Ich und Du mehr ist. Und das ist genau das, was Leute berichten, die diese Unterschiede nicht mehr leben, dass sie dann oft auch die Sexualität als langweilig und tot erleben.

Dass es der kleinste gemeinsame Nenner wird.

Genau. Und der wird natürlich immer enger, je besser man sich kennt. Es fallen immer mehr Sachen weg.

Interviewgespräch: Theresa Lachner und Sandra Gathmann

Titelfoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com

Theresa

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

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