Too Much Information? Ein Text von Unique

Ich interessiere mich für Sex, seit ich denken kann. Als Kind habe ich verstohlen im Otto-Katalog die Seiten mit den Sexspielzeugen angeschaut, auf dem elterlichen Dachboden den Klassiker „The Joy of Sex“ entdeckt und mir zum glänzend bestandenen Abi den ersten Vibrator geschenkt. Noch viel spannender waren die realen Erfahrungen, die ich über die Jahre mit anderen Menschen gemacht habe. Ich habe an diesen Teil meines Lebens genauso viele Erinnerungen wie an meine erste Party und abenteuerliche Reisen. Gute, schlechte, lustige und lustvolle Erinnerungen – Sex ist genauso facettenreich wie das Leben an sich.

Ich habe während des Studiums öfters gute Pornohefte mit meinen MitbewohnerInnen geteilt bzw. diskutiert. Als ich dann mal Bekannten als „die mit den Pornos“ vorgestellt wurde, war es mir peinlich (obwohl meine WG mich eigentlich für meine Offenheit feierte und sich definitiv nie jemand beklagt hat). Wahrscheinlich, weil ich im selben Moment nichts über die sexuellen Interessen dieser mir unbekannten Leute erfahren habe und quasi die einzige mit heruntergelassenen Hosen war.

Genau das ist der Punkt: Weil die Mehrheit ihre Fantasien (die vielleicht noch viel versauter sind als meine) für sich behält, oder im Puff auslebt, oder verdrängt, wirken Menschen, die öffentlich sagen „Ich mag Sex, finde ihn wichtig und rede darüber“ immer noch wie Sonderexemplare.

Ich will aber nicht in eine Schublade gesteckt werden. Ich interessiere mich neben Sex auch noch für europäisches Kunstkino, die Publishing-Industrie, wie die Welt noch zu retten ist und wo der nächste Hund um die Ecke kommt, den ich streicheln könnte, weil mich das glücklich macht.

Auch in einer großen deutschen Erotik-Community bin ich ab und zu unterwegs. Neben vielen Idioten gibt es da auch interessante Menschen. Gerade Leute in höheren beruflichen Positionen haben dort meist kein Bild mit Gesicht in ihrem Profil. Manche sind vielleicht ohne Wissen ihrer Partner dort unterwegs (uncool!), andere wollen nicht, dass ihre Vorlieben mit ihrem „normalen, seriösen, Alltags-Ich“ in Verbindung gebracht werden. Letzteres kann ich gut verstehen. Auch ich würde eigentlich gern beides dort zeigen: mein Gesicht und ein paar reizvolle Körperdetails. Schließlich gehören meine Brüste und mein Gesicht genauso zusammen wie Sex und der Rest meines Lebens.

Aber die persönliche, authentische Seite von Sex ist irgendwie immer noch Tabu. In der Öffentlichkeit ist nur Platz für Unterwäschewerbung an der Bushaltestelle, Bordellplakate in jedem Dorf und Medienskandale über fremdgehende Politiker. Dabei ist Sex viel mehr als etwas Schmutziges, Verruchtes oder ein Anlass, um die Moralkeule rauszuholen. Da möchte ich schon lange mal rausschreien: Sex ist ein Grundbedürfnis! Sex haben oder wollen ist normal!

Meine Theorie: Sex ist eigentlich nur so eine große Sache, WEIL er in den entscheidenden Aspekten immer noch ein Tabu ist. Wenn alle mal den Mut hätten, offener zu sprechen, würde es schnell normaler werden. Und unsere Gesellschaft nicht mehr so übersexualisiert.

Möglich, dass es dann die ein oder andere „too much information“-Situation geben wird, in der mir mein Vermieter von seinem Lieblingsporno erzählt. Aber hey, damit würde ich schon irgendwie klar kommen, wenn ich dafür nicht mehr so schizophren zwischen meinem seriösen, kopflastigen und meinem lustvollen Ich trennen muss.

Ich will auch gar nicht ständig über Sex reden.. Aber es wäre schön, auf die Frage „Was machst du morgen?“ ehrlich antworten zu können „Da geh ich zum Tag der Offenen Tür in der Schwulensauna, und danach putze ich die Wohnung und telefoniere mit meiner Oma“. Das wär doch mal was.

Headerphoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com

Text: Unique

Theresa

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

9 Kommentare

  • Antworten Dezember 29, 2015

    Darf ich anonym bleiben?

    Ich mag mag mag diesen Artikel! Und ich stimme sehr zu! Ich versuche mit gutem Bespiel voran zu gehen und erzähle meinen Mitbewohnern begeistert von meinen neuen Bondageseilen, der extrem peinlichen Situation mit dem Typen letztens und Hausmittelchen gegen Vaginalpilz. Mein kleiner feministischer Beitrag für die Enttabuisierung dieser Sexualität von der immer alle reden ohne von ihrer eigenen etwas preiszugeben.

  • Antworten Januar 3, 2016

    Schlapphut

    Wenn Sex so etwas Normales wie Essgewohnheiten wäre, wäre er ähnlich aufregend. Er ist aber aufregender. Denn er ist nicht normal.

    Ich kann Deinen Drang, Deine intimen Gedanken ungezwungen zu äußern, total nachvollziehen. Ich mag auch keine Scheren im Kopf.

    Aber das Risiko, auf die Offenbarung des Intimlebens keine entsprechende Gegenreaktion zu erhalten und somit allein entblößt dazustehen, ist nun mal groß.

    Zum Glück gibt es genug (vornehmlich digitale) Räume, in denen dieses Risiko sehr klein ist. Denn die Offenbarung des Intimlebens ist dort Konsens. Oder mehr: sie ist gut für das Standing.

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  • Antworten März 18, 2016

    Michael

    Wieso wird nach meinem Empfinden, so als cis-heterosexueller Mann, von vermeidlich aufgeklärten Mensch immer rum gekichert wenn man über Sex im allg. und oder div. Vorlieben Spricht oder komisch behandelt bzw. in eine Schublade gesteckt wird, siehe https://www.lvstprinzip.de/kanye/#comment-469 .

    Wo ist das Problem Lust, Phantasien und Spaß zu haben. Diese frage stelle ich mir seit 20 Jahren und finde bis dato keine Antwort.

    • Antworten März 29, 2016

      Unique

      Hi Michael,

      ja, das ist echt eine gute Frage. Ich glaube ja, die Menschen haben einfach generell Angst davor, echt zu sein. Auch Schubladendenken ist ja kein Phänomen, das nur beim Sprechen über Sex, eigene Erfahrungen, Vorlieben, die eigene Orientierung etc. auftritt.
      Schubladen sind bequem. Das eigene Weltbild hinterfragen oder Uneindeutigkeit aushalten ist da viel anstrengender. Lohnt sich aber immer :-).

      Liebe Grüße,
      Unique

  • Antworten März 26, 2016

    Duda

    Als jemand, der seinen Freundeskreis seit zehn Jahren durch “to much information” zu bekehren versucht, feier ich diesen Artikel. Ich bekämpfe Prüderie, wo ich nur kann, weil ich mir nicht gerne auf die Zunge beise und mir “meinen Teil denke”. Meistens geht das gut, die Menschen antworten im Rahmen ihrer Befindlichkeiten ähnlich offen.

    Aber spätestens im professionellen Umfeld halte ich mich dann auch zurück. Komischerweise hört da der Spaß auf. Ich bin ja froh, dass diverse Arbeitnehmer das Bedürfnis “Nahrung” ihre Weltvorstellung aufgenommen haben. Über Lust reden – was käme denn da als nächstes? Koks und Nutten? Und ich bin – ehrlich gesagt – nicht mutig genug, um für dieses Thema etwas zur riskieren.

    • Antworten März 29, 2016

      Unique

      Hallo Duda,
      sehr cooler, lustiger Kommentar von dir :-). Ja, im Arbeitsumfeld ist es auf jeden Fall noch mal komplizierter. Gegenüber Vorgesetzten passt es wahrscheinlich wirklich nicht. Unter Kollegen, die man gut kennt, vielleicht schon eher. Würde sagen, das hängt von der Situation und den Leuten ab.

      Liebe Grüße
      Unique

  • Antworten Mai 17, 2016

    corpo strano

    Naja, ich bin eigentlich ganz froh, wenn ich nicht persönlich-direkt überinformiert werde.

    Ehrlich gesagt interessieren mich Intimitäten höchstens von mir dahingehend sehr sympathischen Menschen oder anonym – wobei anonym auch so aussehen kann, dass man demjenigen nicht wieder über den Weg laufen muss, wenn man von ihm mal überinformiert wurde oder sich herausstellt, dass man ihn überinformiert hat.

    In den digitalen Räumen ergibt sich aber bei mir durchaus schon mal der Wunsch nach direktem Austausch. Komischerweise aber nur dann, wenn “Seelenverwandtschaften” auch auf ganz anderen Gebieten (als der Sexualität) aufgetaucht sind.

    Umgekehrt find ich’s schwieriger. Da möchte ich das Verhältnis, das gegenseitige Verständnis und die Zugewandtheit nicht durch Outen meiner Vorlieben riskieren, mit denen der andere vielleicht garnichts anfangen kann oder vor denen ihr/ihm möglicherweise sogar graust. Bin ich deshalb total verklemmt?

    In der (eigentlich ja nur) Pseudonymität, in der sich manche seltsamerweise trotzdem ganz persönlich angreifbar fühlen, finde ich auch eine andere Umkehrung einfacher: Ich hab schon Fetischisten und BDSMlern schreiben können, dass ich gewisse (ggf. ihre) Vorlieben nicht nachvollziehen kann, mich im Falle selbst bzw. mit dem Partner auf die Suche nach dem darunter liegenden Bedürfnis machen wollte. Dass ich zudem vieles für Surrogate halte – die ja durchs Bewusstsein befreit stattdessen sogar zu Erweiterungen werden könnten.

    Ich fürchte, dass solche Infragestellung in realen Räumen oft zu einem Abbruch des Austausches geführt hätte. Dann wüsste ich heute manches nicht, könnte viel weniger Neugierde, Verständnis und Toleranz entwickeln, die doch irgendwie Voraussetzung sind, anders gefusselte Menschen dann ggf. auch real zu mögen und nicht nur zu akzeptieren oder gar nur zu dulden, zu übersehen.

    Ist Übersexualisierung eigentlich der richtige Begriff? Werden wir nicht “nur” vom Kommerz sexuell überreizt und der Sex als solcher banalisiert, zum Klingelzeichen für Pawlowsche Hunde pervertiert? Wir bekommen ja gerade keinen Sex auf diese Reize hin, seibern nur. In Anlehnung an Umwelt- und Lichtverschmutzung schlage ich eher Sexverschmutzung als Schlagwort vor. Das passt in beiderlei Bedeutung:

    Die Sexualität wird ihrerseits durch die ubiquitäre, sich immer wieder steigernde Überreizung und totale Übertreibung verschmutzt wie der Sternenhimmel durchs Licht, bis keine Sterne mehr sichtbar sind. Und sie verschmutzt als Überreizung und Übertreibung unsere Sinne und unsere Sinnlichkeit, quasi die Fähigkeit und das Bedürfnis, überhaupt noch Sterne zu sehen.

    In Wirklichkeit werden wir doch desensibilisiert und damit irgendwie untersexualisiert. Wozu sonst die ganzen Workshops? ;-)

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