Wer die letzten Wochen auch so seine Probleme hatte, durch den eigenen Newsfeed zu scrollen, liest am besten lieber hier weiter. Ein Trigger Warning für das Trigger Warning.
Diese Geschichte spielt nicht in der Kölner Sylvesternacht, es geht nicht um „Sex-Täter“ und auch dieser ominöse „nordafrikanische Mann“ hat ausnahmsweise mal seine Ruhe. Wir befinden uns an einem sonnigen Sonntagnachmittag, dem 1. Advent um genau zu sein, in Rio de Jaineros Ausgehviertel Lapa.
Meine Reisekumpanin M und ich sind ironischerweise ausgerechnet auf dem Weg zu einer (architektonisch absurden) Kirche. Zehn Meter von der Touri-Info entfernt springt uns plötzlich ein Junkie an und fuchtelt mit einer riesigen Glasscherbe vor unseren Gesichtern rum. Der Typ schreit „Phone, Phone, Phone“ und zerrt an M´s Jute, bis die sie schließlich loslässt. Ein paar Penner sehen sich das Spektakel gelangweilt an und trinken weiter Schnaps.
Auf der Polizeistation blättern wir uns durch die komplette Verbrecherkartei und finden den Dude sogar wieder, er hat das schon mal getan, er wird es wieder tun, und wahrscheinlich hätte er uns echt was angetan für dieses bekackte Smartphone und seinen nächsten Schuss.
Junkielogik. Gewalt, gegen die man rational einfach nicht ankommt, das ist wie mit Pegida. Noch tagelang sehe ich jedes Mal sein wutverzerrtes Gesicht und die riesige Glasscherbe vor mir, sobald ich meine Augen schließe. Ich zucke zusammen, sobald sich mir jemand auf der Straße von hinten nähert. Trauma. Normal.
Ansonsten ist nichts passiert, so rein rational betrachtet. Das Rumgenerve mit Polizei und Versicherung: verschmerzbar. Meine Wertsachen sind ja auch alle noch da. Und das ist nicht der erste Raubüberfall, der direkt neben mir passiert. Wahrscheinlich habe ich irgendwo einen Schutzengel, anders kann ich es mir statistisch eigentlich nicht erklären, dass mir in dreieinhalb Jahren größtenteils Alleinereisen auf sämtlichen Kontinenten noch nie auch nur irgendwas ansatzweise Schlimmes passiert ist.
Taifune, Bombenanschläge, mitten in der Nacht allein im Reisfeld stehengelassen werden. Bestochene Behörden, Busunfälle, pädophile Airbnb Hosts. Burmesische Taxifahrer auf Drogen mit blutigen Fingerknöcheln die mich laut fluchend stundenlang durchs Nirgendwo fahren und am Ende irgendwann doch noch am Flughafen ankommen. Es gab bis jetzt keine noch so gruselige Situation, aus der ich mit mehr aus einem Schrecken und dem ein oder anderen sehr spontan umgebuchten Flugticket herausgegangen bin. Irgendetwas scheint irgendwo da draußen auf mich aufzupassen, Klopf auf Holz.
Und trotzdem lässt mich der Vorfall verändert zurück. Die eigentliche Geschichte, das eigentliche Trauma beginnt nämlich erst hinterher. Als ich anfange, mich rechtfertigen zu müssen, WIESO uns das passiert ist. Um zwei Uhr nachts besoffen, in ner dunklen Gasse? Um zwei Uhr nachmittags auf dem Weg zur fucking Kirche. Da nimmt man halt auch keine teuer aussehende Handtasche mit – ja, die Lvstprinzipjute lässt sich schon leicht mit ner Louis Vuitton verwechseln. Na ihr wart in dem Moment halt bestimmt abgelenkt, sonst wär das wohl nicht passiert – Der Typ kam von hinten und hat uns mit einer Glasscherbe angesprungen. Hab ich leider keine Augen. Sorry, aber dann stand euch anscheinend wohl Tourist auf der Stirn geschrieben – Mhm ja genau, so mit Stadtplan und Spiegelreflexkamera vor der Brust…das ist jetzt weder der Zeitpunkt für Rassenkunde noch für die Gewalterlebnisse, von denen mir meine blonden und nicht-blonden brasilianischen Freunde so erzählen. Also ICH fühl mich supersicher in Rio – herzlichen Glückwunsch, du kriegst ein Fleißsternchen. Wieso fährst du auch immer so weit weg von zuhause, das hast du halt jetzt davon. Jap. Danke. Unfriend.
Ich weiß nicht, wie oft ich dieses Gespräch inzwischen in all seinen Variationen geführt habe, und es ermüdet mich, ehrlich gesagt. Ich bin es so leid, erklären zu müssen, dass ich längst nicht so doof bin wie all diese Fragen suggerieren. Behandelt zu werden, als wäre ich ein bekackter All-Inclusive-Tourist, der zum ersten Mal aus seinem Fünfsternebunker ausbüxt und prompt abgezogen wird. Mich zu rechtfertigen damit, wieviel Zeit ich schon an was für gefährlichen Orten verbracht habe, und was mir da schon alles NICHT passiert ist. Gegen diesen grundmenschlichen Reflex anzukämpfen, der Victim Blaming nun mal ist.
Das Schlechte von uns weisen. Es rationalisieren wollen. Der hat jetzt nur Krebs weil er bestimmt sein ganzes Leben lang geraucht hat. Selbst schuld, bei dem kurzen Rock. Kein Wunder, dass die immer nur so desolate Männergeschichten hat, so hysterisch wie die halt drauf ist. Wieso ist sie denn dann nicht einfach gegangen, nachdem er sie immer wieder geschlagen hat? Aber hast du dich auch genügend gewehrt? Selbst schuld, wenn man so auffälligen Schmuck trägt, da macht man sich halt auch zur Zielscheibe. Arbeitslos? Faul! Dann geht man halt nicht in so Menschenmassen. Dann muss man halt auf belebten Straßen bleiben. Und nicht zu vergessen: eine Armlänge Abstand, bitte.
Wir rationalisieren Dinge, um sie von uns fernzuhalten – das hätte mir nicht passieren können. Alternativvariante: das ist mir noch nie passiert, WEIL. Ein menschlicher Kontrollreflex. Nur leider kompletter Bullshit. Gewalt ist einfach Gewalt, und die lässt sich manchmal nicht verhindern. Es war nichts anderes als Bad Fucking Luck, zur falschen Zeit am falschen Ort von einem Junkie mit Glasscherbe angesprungen zu werden. Das hätte original jedem Menschen passieren können, der aussieht als würde er ein Smartphone besitzen und im Zweifelsfall lieber sein Leben behalten als das Teil.
Das eigentliche Trauma ist nicht die Gewalterfahrung, sondern die Schuld, die man als Opfer im Nachhinein zugeschrieben bekommt. Und ich weiß, wie viel einfacher es ist, über dieses Erlebnis zu schreiben, bei dem es „nur“ um meine körperliche Unversehrtheit geht und nicht um meine sexuelle Integrität.
Denn Victim Blaming ist, im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, nur die logische Konsequenz der Gesellschaft in der wir leben. Eine Gesellschaft, in der Opfern immer dann die Schuld in die Schuhe geschoben wird, wenn ein anderes Narrativ nicht in das Weltbild des ach so tollen, westlichen, entwickelten Landes passt. Ist jemand anders Schuld, muss ich mir selber keine Gedanken machen, ich habe alles richtig gemacht. Tragischerweise scheint uns Menschen diese Art der Auseinandersetzung mit Problemen gefährlich leicht zu fallen. Victim Blaming ist ein besonders perfider Auswuchs der Egozentrik. (Amen, Dr. Peng!)
Und seit mir in Rio ein Junkie mit einer Glasscherbe im Gesicht herumgefuchtelt hat, verstehe ich auch umso besser und am eigenen Leib, warum so wenige Opfer Lust haben, über ihre Erfahrungen zu reden um dann auch noch die Schuld dafür zugeschoben zu bekommen. An Gewalt ist niemand schuld außer der Person, die sie verübt. Punkt.
Und solange ich nicht über Gewalt reden kann, als etwas, was mir passiert ist anstatt etwas, was ich anscheinend hätte irgendwie verhindern müssen, wird sie immer etwas merkwürdig schambesetztes, intimes bleiben. Ist das diese megaziviliserte Gesellschaft, in der wir leben wollen?
Headerphoto Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com
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Julia
Ach liebes, ich bin einfach so froh dass dir/euch nix passiert ist. Wir haben in Salvador auch sehr eigenartige Gestalten getroffen, die glücklicherweise einfach nicht so hartnäckig waren und mir seltsamerweise geglaubt haben, dass ich selbst auch nicht gerade Milionärin bin…
Nicht auszumalen was alles hätte passieren können und was zum Glück nicht passiert ist. Fühl dich gedrückt.
Theresa
I know…es gibt aus dieser Zeit ja noch so viele gruseligere Situationen, in denen wir ja zum Glück zur richtigen Zeit an einem anderen Ort waren. Wieder mal irgendwie alles gut gegangen. Drück zurück aus Bali <3
Leonhard Straub
Was für ein großartiges Stück Schrift. Ich bin nur durch Zufall hier auf die Seite gekommen um dann so Intelligente und lebensbejahende und toll geschriebene Artikel zu Finden. Vielen Dank! Dieses Level der gedanklichen Tiefe zu diesem Thema sieht man echt selten.
Theresa
Wow, vielen Dank für das tolle Kompliment lieber Leonhard!
Nicole
Wie bescheuert sind die Leute eigentlich? Ob mit Spiegelreflex vor der Brust oder getarnt als Landstreicher, ob aus dem Fünfsternehotel oder aus dem Hostel, ist doch kack egal. Wenn man überfallen wurde, wurde man überfallen, das ist Gewalt an Körper und Seele, ein Verbrechen und somit nicht okay!!
Ich persönlich würde vielleicht auch solche Fragen stellen, aber da ginge es weniger darum, den anderen verantwortlich zu machen, sondern um sich ein Bild der Situation zu machen. Klar ist es interessant, ob man als Touri erkennbar war, klar ist es interessant, ob es mittags oder nachts war, aber diese Unterschiede machen den Täter noch lange nicht zum Opfer – oder noch besser: das Opfer zum Täter. In unserer Gesellschaft läuft etwas gewaltig schief.
Mir tut es sehr leid, dass du diese Erfahrung(en) machen musstest, und zwar sowohl den Überfall als auch das spätere blöde Gequatsche anderer. Aber wehe, die kommen mal in eine solche Situation, dann ist das Geschrei nämlich groß…
Über Brüste und Mut ⋆ Lvstprinzip
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