Wild und doch gezähmt – ein Text von Marina

Die Sonne überflutet mein Zimmer mit warmem, grellem Licht. Es ist längst nicht mehr Morgen als ich langsam meine Augen öffne, mich aus seiner Umarmung löse und mich zu ihm drehe. Nasenspitze an Nasenspitze liegen wir jetzt da. Er kräuselt seine Nase, weil ein Sonnenstrahl sie kitzelt.

Wir haben vergessen den Vorhang zuzuziehen, als wir nach Hause kamen. Zu gefangen im Moment waren wir, um vorauszuschauen. Jetzt büßen wir dafür, er in unruhigem Schlaf, ich in erschöpfter Munterkeit. Und trotzdem würde ich gerade nichts lieber machen, als hier zu liegen, ihn zu beobachten, seine Nasenspitze mit meinen Lippen zu umschließen und mein Herz mit der Sonne um die Wette strahlen lassen. Dieses Herz ist gefüllt mit Liebe, überschwänglicher und doch auch bescheidener, wilder und doch auch gezähmter. Es schlägt manchmal im Einklang mit seinem, manchmal schlägt es trotzig dem Einklang entgegen.

Ein Teil von mir will ihn lieben, ihm gehören, sich von ihm zähmen lassen. Ein anderer Teil will sich ausleben, gegen Regeln verstoßen, wild sein. Wild und doch gezähmt. So fühle ich mich mit ihm. Ich habe seine Erlaubnis, wild zu sein. Unsere Beziehung ist ein Käfig mit offener Tür. Wir fliegen aus, manchmal gemeinsam, manchmal getrennt. Irgendwann kommen wir zurück, treten freiwillig in die Zähmung eiserner Gitterstäbe bis die Außenwelt uns wieder aus unserem Käfig lockt, an unsere Wildheit appelliert, uns in Versuchung führt, uns verführt.

Dann lassen wir uns wieder fallen, geben uns im freien Fall trotzdem Halt. Ich sehe jetzt schon so lang in sein Gesicht, dass ich mich darin verliere, in seiner Vertrautheit, in seiner Unberechenbarkeit. Überwältigt von dem ausbalancierten Ungleichgewicht drehe ich ihm wieder den Rücken zu.

Und gleichzeitig finde ich mich wieder Nasenspitze an Nasenspitze, diesmal mit ihr. Einem schönen, unbekannten Mädchen, das unser Bett enger und den Raum heißer macht. Ihr blondes Haar reflektiert das Sonnenlicht, das immer noch durch das Fenster einströmt und das Licht, das sie umhüllt, schmerzt in den Augen.

Gleichzeitig habe ich ihren Duft in meiner Nase, eine Mischung aus französischem Parfum und Schweiß vom Lieben. Dieser Geruch klebt auch an ihm, umhüllt ihn mit etwas Unbekannten, verfremdet seine Vertrautheit. Sie ist ein willkommener Eindringling. So etwas passiert, wenn die Tür zum Käfig immer offen steht.

Manchmal verirrt sich jemand in unseren Käfig. Vielleicht verirrt sie sich so oft hierher, dass der Käfig irgendwann auch ihr Zuhause wird. So wie ich zwischen ihnen liege, holt mich die Müdigkeit wieder ein und schließt mir wieder die Augen und ich schlafe wieder ein, mit einem verliebten Lächeln im Gesicht.

 

Marina, eine junge Frau aus Graz, die für die Liebe und von der Liebe lebt, ist momentan allein, weil der Geliebte aus dem Käfig ausgebrochen ist. Er wird schrecklich vermisst und soll wissen, die Tür des Käfigs bleibt weiterhin offen für ihn und alle anderen Liebesliebenden.

Schnief. Hach. Das Lvstprinzip drückt die Daumen.

Titelfoto: Aaron Tsuru (c) Tsurufoto.com

Text: Marina Ortner

Theresa

Theresa Lachner ist Journalistin, Systemische Sexualberaterin und die Gründerin von LVSTPRINZIP.

4 Kommentare

  • […] 2016-06-22: Lustprinzip Wild und doch gezähmt […]

  • Antworten Juni 27, 2016

    Duda

    Zurücklehnen, zufrieden nicken und ne Runde träumen. Schöner Text!

  • Antworten Juli 1, 2016

    Paul

    Sehr schöner Text. Vielen Dank für das Teilen!
    Man sucht im Internet sehr lange und meist vergebens nach anspruchsvollen erotischen Texten.

  • Antworten Juli 26, 2016

    Stefania T

    Wow unfassbar toller Text den du dort geschrieben hast. Ich finde dieser Text prickelt alleine beim lesen schon im ganzen Körper, da man sich perfekt in diese Lage hineinversetzen kann. Genau das Gefühl welches du in deinem Text beschreibst, verspüre ich tagtäglich wenn ich meinem Mann gegenüberliege, einfach nur toll.Liebe Grüße Stefania

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